Die Rollbahn
vor – kein Soldat, sondern eine umherwandelnde Ideologie im Waffenrock. Das Gefährlichste, was es gibt! Ein politischer Soldat! Vielleicht gibt es etwas noch Gefährlicheres – den soldatischen Politiker … im Endeffekt aber gleicht es sich aus: Sie leben von der Geburt des Chaos!«
Er wandte sich ab und ließ den sprachlosen Vogel allein in der niedrigen, holzverschalten Erdhöhle.
Als er hinaustrat in die untergehende Sonne, jagte auf einem Motorrad ein Melder in den Bataillonsgefechtsstand. Er warf die Maschine mit laufendem Motor seitlich weg und stürzte zu Major Schneider hin.
»Herr Major!« brüllte er. »Herr Major! Zwischen der 9. und 10. Kompanie ist der Iwan durchgebrochen. Zwölf Panzer … T 34! Mit aufgesessener Infanterie. Sie sind in zehn Minuten hier.«
Major Schneider nickte. Er ging zurück zu seinem Unterstand und zog an dem Draht, an dem eine Reihe Blechdosen hing. Rappelnd und scheppernd tönte der Alarm durch die Stellung.
Aus den Unterständen rannten die Landser. Leutnant Vogel, der Sanitätsfeldwebel, ein Leutnant des Bataillonstrupps liefen auf Major Schneider zu. Nach einem oft geübten Plan wurde aus dem Bataillonsstab eine Igelstellung.
»Leute!« sagte Major Schneider. Seine Stimme war hell und flog über den weiten Platz. Er stülpte seinen Helm über den Kopf, zog den Kinnriemen an und ergriff seine Maschinenpistole. »Fertigmachen zum Sterben!«
Durch Smolewitschi rollten die Panzer auf das 3. Bataillon.
Sie feuerten nach allen Seiten.
Sie feuerten auf Menschen, die wie Hasen im Zickzack um ihr Leben liefen …
Mit dem Auftauchen der ersten Panzerspitzen südlich von Minsk und dem Vorstoß der Truppen Marschall Rokossowskis durch die zerrissene 9. Armee war für Oberstabsarzt Dr. Seidel der Zeitpunkt gekommen, sein Lazarett in Sczynno zu räumen und weiter rückwärts zu verlegen.
Er ließ zunächst die Schwerverletzten mit einigen Lazarettzügen wegbringen … nach Thorn, Graudenz und Deutsch-Eylau. Dann fuhr er an einem Abend hinüber nach Nasielsk und besuchte Elsbeth Holzer.
Er traf sie auf dem Boden der Schule an, wo sie vor großen Glaskästen saß und eine Schmetterlingssammlung katalogisierte. Sie bemerkte seinen Eintritt nicht, sondern blätterte in einem Bilderbuch über Entomologie und suchte eine bestimmte Rasse.
»Interessant?« fragte Dr. Seidel.
Erschrocken fuhr Elsbeth Holzer herum und ließ das Buch fallen. Als sie Dr. Seidel erkannte, lächelte sie.
»Sie haben mich erschreckt, Herr Oberstabsarzt. Ich habe Sie nicht hereinkommen gehört.«
»Sie waren so beschäftigt, Fräulein Lehrerin.« Er betrachtete kurz die Glaskästen mit den kleinen Körpern und den bunten, herrlich gefärbten, weit ausgespannten Flügeln. »Draußen werden die Menschen und die Natur zerstampft, und Sie hocken hier auf dem Dachboden Ihrer Schule und katalogisieren Insekten.«
»Würde es draußen anders sein, wenn ich hier säße und Trübsal bliese? Sehen Sie diese Schmetterlinge an. Sie sind tot und erfreuen doch die Menschen.«
»Was man im allgemeinen von Toten nicht sagen kann.«
»Aber irgendwie ist es tröstlich zu wissen, daß manchmal der Tod doch einen Sinn und Nutzen hat.«
»Ein makabrer Trost, Fräulein Holzer.«
»Aber immerhin ein Trost. Wissen Sie einen besseren?«
»Die Aufgabe unseres Fatalismus. Das Schlußmachen mit dieser wahnsinnigen Zeit!«
»Ein Wunsch, den Ihnen keine Märchenfee erfüllen könnte.« Elsbeth Holzer schob die Glaskästen zur Seite und erhob sich. In ihren Augen glomm Angst auf. »Sie wollen Sczynno verlassen, habe ich gehört. Sie transportieren die Verwundeten ab.«
»Ich verlege weiter nach hinten. Die ersten Panzerspitzen sind bei Minsk gesichtet worden. Wenn Minsk fällt …«
»Davon haben wir nichts gehört im Wehrmachtsbericht …« Elsbeths Gesicht wirkte fahl.
»Wenn es der Wehrmachtsbericht bringt, steht der Russe schon bei Warschau. Unsere Quelle ist der englische Sender. Hören Sie ihn nie?«
»Nein. Es ist doch verboten.«
»Es ist heute alles verboten – sogar die Wahrheit. Wer noch Ideale besitzt und glaubt, das Wahre sei auch das Recht, wird unter der Schlinge, die an einem Fleischerhaken hängt, eines anderen belehrt: Macht geht vor Recht!« Oberstabsarzt Dr. Seidel ruckte am Rock seiner Uniform, als schlüge er Falten. Es war ein Verlegenheitsrucken … er suchte einen Übergang zu dem, was ihn zu Elsbeth Holzer geführt hatte. »Ihre Schmetterlinge sind tot«, sagte er ungelenk. »Jetzt ruhen sie
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