Die Rollbahn
weniger … aber auch nicht mehr … Und wenn auch jeden Tag vor den Verpflegungshauptlagern in Borrisow oder Baranowitschi in großen Haufen die verdorbenen und schimmelig gewordenen Lebensmittel verbrannt wurden … Ordnung muß sein im deutschen Militär: Der Soldat erhält pro Tag … Verordnung Nr. 15 oder 17 … Und kein Gramm mehr!
Man nennt das die Korrektheit der Verwaltung und belohnt sie mit Kriegsverdienstkreuzen.
Strakuweit griff in seine Uniformtasche und holte drei Apfelsinen hervor. Der Stabsgefreite hinter dem Steuerrad sah zur Seite und riß die Augen auf.
»Aufpassen, du Idiot!« Strakuweit griff in das Steuerrad und riß den Wagen zur Seite. Ein junger Leutnant, der sich durch einen Hechtsprung vor dem Überrollen gerettet hatte, schrie und schrieb sich die Nummer und das Divisionszeichen des Wagens auf.
Der Stabsgefreite umklammerte das Steuerrad und starrte wieder auf das Band der Rollbahn.
»Mensch – Apfelsinen!« sagte er mit trockenem Hals. »Die habe ich zuletzt 1939 gesehen!«
»Ein Wunder, daß du sie überhaupt noch kennst! Bei Smolewitschi liegen mindestens 5.000 Kisten davon.«
»Wo?«
»Smolewitschi.«
»Und die habt ihr bekommen?«
»Bekommen?« Strakuweit gab Leskau und dem Stabsgefreiten eine Apfelsine und begann, mit dem Daumennagel ein Loch in die orangene Schale zu bohren. Ein herbsüßer Duft erfüllte das enge Führerhaus des Wagens. Der Stabsgefreite schnaufte genießerisch.
»Das riecht besser als das Parfüm meiner Emma …« Er nahm Strakuweit die geschälte Apfelsine aus der Hand und warf ihm seine zu. »Da – von wegen des Fahrens …« Er biß hinein und leckte den süßsauren Saft ab, der ihm aus den Mundwinkeln herauslief. »Wo kommen denn die 5.000 Kisten hin?«
»Frag mal ›Tante Klara vom Wochenblatt‹!«
Leskau sah verträumt auf die breite Straße vor sich. Er zerteilte seine Apfelsine in die einzelnen Scheiben und aß sie langsam wie eine teure Kostbarkeit. Er regte sich nicht mehr darüber auf, daß sie gestohlen war und auf Plünderung die Todesstrafe stand. 5.000 Kisten, dachte er. Wo kommen sie hin? Sie werden nie die HKL erreichen … irgendwo werden sie verschwinden, und keiner wird wissen, wo sie geblieben sind. Ein Zahlmeister wird schreien, weil eine Kiste erbrochen war und 15 Apfelsinen fehlten! Meldung: Unbekannter Täter hat im Verpflegungslager VII … Papier … Berichte … Gerunzelte Stirnen … Empörung! 15 Apfelsinen! Himmelkreuzdonnerwetter! Der Wehrmacht fehlen 15 Apfelsinen! Sauerei, so etwas! Wenn das noch einmal vorkommt, Herr Kriegsverwaltungsrat … Soviel wir wissen, sind Sie nur bedingt a.v. geschrieben! Aus a.v. kann man leicht k.v. machen!
Blasse Gesichter … Röhren im Darm vor panischer Angst … besonders zackige Kehrtwendung … abends großes Besäufnis vor noch größerem Kummer über die Verwerflichkeit der kämpfenden Truppe, diese dreckigen Frontschweine!
Und eines Tages – siehe da! – sind die 5.000 Kisten weg. Es gibt Transportscheine … es gibt Empfangsscheine … es gibt Weiterleitungsscheine … Bis man nicht mehr durchsieht, bis sich alles verwirrt … Kisten am 10.5. in Borrisow … am 13.5. in Slawjany … am 17.5. in Bobr … Verdammt … sie gehen ja wieder zurück … Irgendwo liegt da doch ein Fehler – plötzlich sind sie weg! Einfach weg! Futsch! sagte der Oberzahlmeister zu dem Stabsintendanten. Und von jetzt ab hält man die Schnauze … 5.000 Kisten Apfelsinen, gedacht als Vitamin C für die kämpfende Truppe, als Ansporn der Leistung und Belebung der Kräfte, leuchtenden Auges für Führer und Großdeutschland zu fallen, wandern irgendwo durch dunkle Kanäle kreuz und quer durch Rußland. Es kann vorkommen, daß eines Tages der Oberquartiermeister zu seinem Kommandierenden sagt: »Herr General … darf ich Ihnen ein paar ausgesuchte Apfelsinen anbieten. Soeben angekommen …« Oder die schwarzhaarige und vollbusige Juschka in Sokolino wird des Abends von ihrem Towaritsch Zahllmeistär mit zwanzig Apfelsinen überrascht. »Oh«, sagt sie dann und ihr Lachen ist dunkel wie die Steppe vor ihrer Hütte. »Du guttes Mensch. Du ljubimez … Oh … pozelui menja …« Und der gute Mensch, Zahlmeister Schmitz aus Köln, küßt die glutheiße Juschka aus Sokolino … Donnerwetter, was doch 20 Apfelsinen wert sind …!
Daran dachte Leskau, und die Apfelsine schmeckte ihm bitter.
Strakuweit, der gerade in seine frisch geschälte Frucht beißen wollte, hielt plötzlich mitten in der zum
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