Die Rollbahn
Seit der Russe so still ist, drehen hier alle durch. Die glauben alle an eine Offensive! Welche Aufregung in den Gedärmen!«
Nun hatte Heinrich Zeit. Viel Zeit sogar. Der Lastwagen ging gegen Nachmittag ab … bis dahin fragte keiner nach ihm. Es war wie ein herrlicher Ferientag für ihn … kein Stöhnen der Verwundeten, keine Verbände wechseln, keine Injektionen geben, keine Vorträge des Chefs – »Heinrich, das Lazarett ist zu klein. Wenn es losgeht, müssen wir die Verwundeten wie die Ölsardinen stapeln« – kein Schimpfen der Halbgenesenden, die nicht einsahen, warum sie keinen Ausgang bekamen, wo die Gegend voller Madkas war, und vor allem keine Reden des Sanitäts-Obergefreiten Blubbke mehr, dessen Witz: »Was ersetzt dem Soldaten die Braut? – Das Klistier!« – der Schrecken aller Landser war.
Walter Heinrich genoß diese Stunden der Stille und des Friedens. Er bummelte durch die Stadt, grüßte die wenigen Offiziere, die ihm begegneten und meistens von der Luftwaffe waren, und kam an einen großen Platz, an dessen einer Seite ein großer Ziegelbau inmitten von Büschen und Bäumen lag.
Sieht aus wie ein Krankenhaus, dachte er und wollte schon bei diesem Gedanken wieder umkehren, als er einen hellen Gesang hörte. Kinderstimmen … tatsächlich Kinderstimmen. Er blieb stehen und lauschte.
Das ist doch nicht möglich, dachte er. Das ist doch wie in einem schlechten Film. Mitten in Polen, hinter der Front, die eine große Offensive erwartet, singen Kinder ein deutsches Lied?
Er ging mit großen Schritten über den weiten Platz und trat an das geöffnete Fenster heran, aus dem der Gesang der hellen Kinderstimmen hinaus in den Sommermorgen klang.
»Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt –«
Walter Heinrich mußte lächeln. In die weite Welt hatte sie nicht Gott, sondern der ›Führer‹ geschickt. Der Widersinn zwischen Lied und Wirklichkeit ließ ihn wieder den Kopf schütteln. Er trat etwas zurück vom Fenster, hob sich auf die Zehenspitzen und versuchte, in das Zimmer zu sehen.
Es war eine Schulklasse. An der linken Schmalwand hing eine Tafel, davor stand ein Pult. Die Kinder sah er nicht … sie saßen während des Singens … aber vor dem Pult sah er einen Kopf … einen dunkellockigen Mädchenkopf, und zwei schmale Hände hoben und senkten sich im Takt. Sie dirigierten …
Regungslos blieb Heinrich stehen und starrte auf den Mädchenkopf. Der Schein der in den Klassenraum flutenden Sonne lag über dem Haar … und es schimmerte einen Hauch ins Kastanienrot hinein, so, als sei es aus ganz feinen Kupferfäden gesponnen.
Für eine Sekunde blickten ihn graugrüne Augen an, dann schnellte der Kopf wieder herum zu den Kindern. Sanitäts-Unteroffizier Heinrich schob sein Schiffchen gerade und knöpfte trotz der Hitze seine Feldbluse zu. Eine Lehrerin im tiefsten Polen, eine deutsche Lehrerin sogar … Als das Mädchen wieder zur Seite blickte, lächelte er ihr zu. Da trat sie an das Fenster und wollte es schließen. Er hob die Hand und trat näher ans Haus heran.
»Bitte nicht«, sagte er bittend.
Die graugrünen Augen unter den kupferschimmernden Haaren sahen ihn kritisch an.
»Sie stören den Unterricht.«
»Wenn ich draußen stehe?«
»Wenn Sie mich immer so anstarren. Ich muß dann immer an hungrige Kannibalen denken.«
Heinrich lachte. »Wundert Sie das, mein Fräulein? Sie leben ja nur unter ausgehungerten Kannibalen! Sie sind eine Herausforderung für jeden Landser!«
Die graugrünen Augen blitzten auf. »Flegel!« Mit einem Knall wurde das Fenster geschlossen. Dumpf tönte der Gesang der Kinder durch die Scheiben. Heinrich trat wieder etwas zurück und blickte in die Klasse. Das Mädchen saß jetzt hinter dem Pult und hielt einen Zeigestock in der Hand. Sie war wütend, man sah es. Sie hielt den Stock wie einen Knüppel, mit dem sie gleich zuschlagen würde. Und sie vermied es, zur Seite zum Fenster zu blicken.
Walter Heinrich sah auf seine Armbanduhr und stellte sich in den Schatten des Schuleinganges. Er wartete keine zehn Minuten, da stürmten die Kinder aus der Klasse an ihm vorbei auf den Schulhof … Jungen und Mädel, lachend, singend, sorglos wie alle Kinder auf der Welt. Sie rannten an Heinrich vorbei und warfen ihn bald um, weil er mitten in der Tür stand und ins Schulhaus hineinspähte. Als er die junge Lehrerin aus der Klasse treten sah, nickte er ihr wieder zu. Ihr Gesicht war verschlossen und abweisend, als sie auf ihn
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