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Die Rollbahn

Die Rollbahn

Titel: Die Rollbahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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an. Die Frage sprang ihn an wie ein Schlag. Wo ist sie? dachte er plötzlich. Ein Teil in Polen, ein Teil in Frankreich. Ein Bruchteil als Krüppel in der Heimat. Ein Wald von Kreuzen, verstreut über Europa … Die aktive Truppe …
    Er gab keine Antwort und nahm seine unruhige Wanderung wieder auf. Auf einer Kiste, die als Schreibtisch diente, tickte einsam und laut in die Stille hinein eine Uhr. Ein Reisewecker.
    Major Willi Schneider blieb stehen. Greta, dachte er plötzlich. Vor einem Jahr hatte sie ihm diesen Reisewecker geschenkt. Zum Hochzeitstag. Zum 15. Hochzeitstag. Und sie hatte wie ein junges Mädchen gesagt: »Sie soll nur schöne Stunden anzeigen, Willi … Sie soll die Uhr unserer schönsten Jahre werden …« Ein wenig theatralisch, fand er damals. Nicht gerade passend für einen Mann, dem man das Ritterkreuz verliehen hatte. Jetzt tickte sie hier auf der Holzkiste und zeigte mit ihren Leuchtzeigern 4 Uhr und 12 Minuten.
    Major Schneider wandte sich zu Dr. Wensky um.
    »Heute ist der 21. Juni, Doktor?«
    »Ja, Herr Major.«
    »Es ist mein Hochzeitstag. Mein 16.«
    »Gratuliere.«
    »Ich habe meiner Frau nicht geschrieben. Das erstemal in den sechzehn Jahren. Ich habe es zum erstenmal vergessen.«
    »Es ist verzeihlich, wenn es um russische Gefangene geht.«
    Major Schneider starrte Dr. Wensky an. Er wußte nicht, ob es Sarkasmus war oder ehrliche Überzeugung. Unsicher fuhr er mit der Hand durch die Luft und legte sie behutsam auf die kleine tickende Uhr.
    »Der Krieg entseelt uns, Doktor. Es gab einmal eine Zeit, da hegte ich Ideale. Da konnte ich durch einen Wald gehen und mich an den Bäumen erfreuen, an dem blühenden Farn, an dem Gesang der Vögel und dem Plätschern eines Baches. Wenn ich heute einen Wald sehe, untersuche ich ihn auf seine Verwendbarkeit als Igelstellung. Ich konnte auf der Kuppe eines Berges stehen und hinab in die Täler blicken, aus denen der Morgennebel emporstieg wie zart gewebte Schleier. Heute würde ich sagen, daß man von dort aus am besten das Tal mit Granatwerfern bestreichen könnte. Wenn ich so alles überblicke, komme ich mir manchmal wie ein Fossil vor, dessen Knochen man dazu benutzt hat, Schlagwaffen herzustellen. Wie kann ein Mensch sich so wandeln?«
    Dr. Wensky hatte den Kopf hochgenommen. Verblüfft starrte er Schneider an. Er ist ja ein Mensch, durchfuhr es ihn. Tatsächlich … er ist ein Mensch wie wir alle. Er hat sogar so etwas wie eine Seele. Wer hätte das gedacht? Oder redet er es nur so dahin in einer sentimentalen Anwandlung?
    »Wir haben uns alle gewandelt, Herr Major.«
    »Sie nicht, Doktor.«
    »Vielleicht weil ich als Arzt zu viele Wandlungen gesehen habe.«
    Schneider nickte. »Das ist es, Doktor. Sie sind – mathematisch ausgedrückt – eine Konstante, während ich ein Multiplikator bin. Wo ich auftrete, vervielfältigt sich das Geschehen. Ich bin wie die Unruhe in einer Uhr. Solange sie rast, treiben die Zeiger vorwärts und vergeht die Zeit.« Er hob die Hand von dem Reisewecker empor und sah auf das leuchtende Zifferblatt.
    4 Uhr und 30 Minuten. Jetzt schlief Greta in dem kleinen Haus außerhalb Rathenows. Ihr Gesicht war gelöst … er sah es vor sich, das schmale Gesicht mit den nußbraunen Haaren. Ihre Nasenflügel zitterten beim Atmen, und er konnte sich entsinnen, sie einmal ganz zart geküßt zu haben, als er wach neben ihr lag und sich über sie beugte. Damals hatte sie im Schlaf gelächelt, so wie ein Kind lächelt, wenn es von seinem neuen Spielzeug träumt. Sie war so glücklich …
    »Was macht der Iwan?« sagte Schneider mit rauher Stimme.
    »Unverändert.«
    »Kriegen wir ihn durch?«
    »Ich fürchte nein.«
    Major Schneider biß die Lippen aufeinander. »Ich lege mich etwas hin«, sagte er knapp. »Wecken Sie mich sofort, wenn er sich rührt.«
    Er ging in den Nebenraum der Bauernhütte und warf sich auf den harten Strohsack. Mit großen Augen starrte er an die schwarze Decke. Er empfand plötzlich Sehnsucht nach Greta und ihren weichen Armen. Eine wahnsinnige, pubertätsverrückte Sehnsucht, die sein Herz schneller schlagen ließ und Blut in seine Lenden trieb.
    »Verrückt!« sagte er laut. Er wälzte sich auf die Seite und zwang sich, die Augen zu schließen.
    So schlief er ein, etwas zusammengekrümmt, den Zipfel des Strohsackes mit beiden Händen umklammernd, als wäre es eine Schulter Gretas oder ein Arm oder ein Schenkel …
    Eine Stunde später starb der Russe. Er röchelte einmal laut, streckte sich, als habe er

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