Die Rollbahn
gesagt: »Lieber Heinrich, ich hatte Sie ausgeschickt, bei der kleinen Monika eine Gastritis zu heilen, aber nicht, um Ihren Hormonspiegel auszugleichen.«
In diesen Tagen aber hatten sie, jeder für sich, in langen, sehnsuchtsvollen Nächten, die Klarheit gewonnen, daß sie sich liebten. Es war etwas ganz Natürliches an ihrer Liebe: Zwei einsame Menschen begegneten sich in der Einsamkeit und sahen plötzlich, daß die Welt gar nicht so leer war. Das war das ganze, simple Geheimnis ihrer Liebe: Sie waren bisher nur zwei halbe Menschen gewesen, die eins wurden, als sie sich fanden. Ein fast physikalischer Vorgang, der durch das, was man Seele nennt, ins Wunderbare erhoben wurde.
Jetzt – zehn Tage später – sah die Welt plötzlich anders aus.
Das Lazarett Sczynno, die Krankensammelstelle, das Revier der Fernaufklärer auf dem kleinen, provisorischen Flugplatz wurden von Verwundeten überschwemmt.
Tag und Nacht standen Dr. Seidel und seine zwei Feldunterärzte und drei Unteroffiziere an den Bahren und OP-Tischen und verbanden, schienten, operierten nach und leiteten die schweren Fälle weiter zurück … nach Sokolow bei Warschau und von dort in die Heimat.
Jeden Abend war jetzt Elsbeth auf dem Gut bei Rehmdes. Die Nachrichten, die in Nasielsk umherschwirrten und bei den Polen stillen Jubel auslösten, machten sie ängstlich.
Witebsk soll eingeschlossen sein. Die Rollbahn zwischen Orscha und Borissow soll von schnellen sowjetischen Truppen besetzt sein. Die ganze 3. Panzer-Armee war vom Nachschub abgeschnitten. Nördlich Mogilew klaffte eine 40 km breite Lücke in der deutschen Front, durch die die Panzer der Sowjets nach Westen stießen, auf die Beresina zu, in den Rücken der Heeresgruppe Mitte. Die 4. und 9. Armee gingen zurück und befanden sich fast in Auflösung.
In völliger Erschöpfung traf Elsbeth vor dem Lazarett Walter Heinrich. Er entlud die Sankas, die immer neue Verwundete ausspien. Es war, als bestünde die ganze deutsche Armee nur noch aus wimmernden und zerfetzten Leibern.
Heinrich wischte sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn. Er nahm Elsbeth zur Seite, um ihr die grauenhaften Anblicke zu ersparen. Durchgeblutete, vereiterte Verbände, schnell amputierte Gliedmaßen, deren Stümpfe faulig stanken. Starre, fiebrige Augen und blasse, schmale Lippen, die um Wasser bettelten.
Elsbeth umklammerte Heinrichs kraftlosen Arm. »Ist das alles wahr?« fragte sie zitternd. »Ist der Russe durchgebrochen …«
Heinrich hob müde die Schultern. »Ich weiß es nicht. Wir ersaufen hier in Blut. Jeder erzählt etwas anderes, jeder hat den Russen gesehen, hinter den Linien, in der Flanke, überall. Sie kommen aus einer Hölle.«
»Und wann wird er hier sein?«
»Hier?« Walter Heinrich sah Elsbeth entsetzt an. Sie sprach etwas aus, woran er in der Fülle des Elends, das ihn umgab, nicht gedacht hatte. »Wir werden ihn irgendwo auffangen, Elsbeth. Zwischen uns und der Front liegen noch 600 km! Wir müssen ihn auffangen … es wäre unausdenkbar, wenn wir weiter zurückgingen.«
Elsbeth lehnte sich an ihn. Ihr Gesicht war bleich und sah wie verfallen aus. »Ich habe Angst, Walter«, sagte sie leise. »Ich habe so wahnsinnige Angst … um dich, um mich, um uns alle …«
Er versuchte ein Streicheln. Aber seine Hand, die über ihr Haar glitt, zitterte. Vertrocknetes Blut klebte an einem der Finger. Schnell zog er die Hand zurück und legte sie auf seinen Rücken.
»Wir müssen hoffen, Elsbeth …«
»Wo alles so hoffnungslos geworden ist …?«
Der Sanka war entladen. Ein Sanitäter und ein Unterarzt führten einen Mann weg, der um sich schlug und mit greller, fast jubelnder Stimme »Juchhu! Juchhu!« schrie. Um seinen Kopf trug er einen dicken Verband, unter dem die Augen merkwürdig starr und ausdruckslos umherblickten. Kopfschuß … gehirnverletzt … Walter Heinrich führte Elsbeth zur Seite und setzte sich mit ihr auf zwei leere Benzintonnen außerhalb des Lazarettbereiches.
»Sie sollen schon auf dem Marsch nach Minsk sein«, sagte Elsbeth. Der Anblick der Verwundeten und des jubelnden Hirnverletzten hatte ihr die letzte innere Fassung geraubt. Sie lehnte den Kopf an Heinrichs Schulter und weinte haltlos.
»Dann nimm den nächsten Zug und fahr zurück nach Dortmund.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir dürfen es nicht. Als dienstverpflichtete Reichsdeutsche haben wir unseren Einsatzort nur auf ausdrücklichen Befehl zu verlassen. Man würde mich wegen Sabotage oder
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