Die Rollbahn
tapfer.«
Er rannte zurück zum Lazarett, zu den Sankas, die neu heranrollten und eine Masse, einen Klumpen blutigen Fleisches und stöhnender, aufgerissener Münder ausspien. Elsbeth Holzer sah ihm nach, wie er über die staubige Straße rannte … ein großer, blonder Junge … Student im 4. Semester, zukünftiger Chirurg …
Zukünftiger … Gab es noch eine Zukunft für sie? Brach nicht die Welt dort hinten im Osten zusammen und wälzte sich eine alles vernichtende Sintflut über Europa?
Mein Gott, wie würde die Zukunft sein?
Sie wandte sich ab und rannte durch den heißen Sommertag zum Gut der Rehmdes zurück.
Sie flüchtete vor ihren eigenen Gedanken.
Und sie hatte Angst. Wahnsinnige Angst …
Über die Rollbahn zogen die sowjetischen Divisionen westwärts.
Diese wichtigste Straße Rußlands, die von Minsk bis Moskau führt, diese Aorta des riesigen Körpers, lag frei vor den Panzerspitzen der Bolschewisten. Beiderseits der Rollbahn nach Witebsk und nach Orscha-Mogilew zu gingen die aufgerissenen deutschen Divisionen kämpfend und verblutend zurück. Noch hielten sich die Städte, igelten sich ein oder wurden durch plötzliche, verzweifelte Gegenstöße etwas entlastet … aber es waren Angriffe, die an der Masse der russischen Armee abtropften.
Unbeirrt, ein stählerner Riesenwurm, zog sie unter der Deckung ihrer Kampfflugzeuggeschwader und ihrer weittragenden Artillerie auf der 12 Meter breiten Rollbahn nach Westen. Durch eine Lücke von 40 km Breite flutete der rote Sturm in die Flanke und den Rücken der allein gelassenen, ganz auf sich gestellten deutschen Divisionen … 38 verlorene Haufen gegen einige hundert frische, aus den Tiefen des asiatischen Rußlands herangeführte Divisionen. Eine Handvoll unrasierter, ausgemergelter, hungernder, dürstender und Munition zählender Männer, die sich festkrallte an den Boden, die sich durch die Wälder und Sümpfe schlug, die gegen den Feind vor sich und gegen den unsichtbaren Feind im Rücken – die Partisanen – kämpfte und die ohne Verbindung untereinander versuchte, eine Front wieder aufzubauen, um den schrecklichen Gedanken nicht aufkommen zu lassen: Der Russe marschiert durch bis nach Deutschland!
Es ging nicht mehr um einige Kilometer Landgewinn oder Landaufgabe … es ging um die Heimat. Vielleicht zum erstenmal empfanden sie einen Sinn in diesem Krieg, wurde plötzlich eine Notwendigkeit des Opferns klar, sahen sie schaudernd das Rad der Weltgeschichte, das über sie hinwegrollte und sie unter sich zermalmte.
Dubrassna, das kleine Dorf südlich der Rollbahn, in dem Hauptfeldwebel Kunze wie ein kleiner König geherrscht hatte, ging unter in einem Feuerüberfall der Artillerie und drei Bombenteppichen eines kleinen Geschwaders, das von den deutschen Reservestellungen zurückkehrte und die letzten Bomben gewissermaßen als Abschied auf Dubrassna niederließ.
Der Troß der 5. Kompanie brach nach diesem Angriff fast fluchtartig auf. Die Toten begrub man nicht. Kunze ließ sie liegen und pirschte sich mit Tamara und zwei Gefreiten durch die Wälder davon. Er vergaß auch, den Ia-Schreiber Simpelmeier mitzunehmen.
Simpelmeier hatte bei dem letzten Angriff einen Bombensplitter in den dünnen Oberschenkel bekommen und lag nun auf dem Strohsack der eingestürzten Schreibstube. Er weinte, weil keiner kam, weil ihn keiner verband, weil sich keiner um ihn kümmerte, weil er einfach dalag in den Trümmern, in die Sonne über sich starrte und darauf warten sollte, bis er einging.
Er sah Kunze herumkriechen und Verpflegung sammeln. In einen Sack stopfte er die noch erhaltenen Büchsen … Gulasch, Schmalzfleisch, Fett, Schweinefleisch … er zog den Sack hinter sich her, keuchend, schwitzend, in den Augen die flatternde Angst, ein neuer Feuerüberfall könnte ihn überraschen.
»Herr Hauptfeld!« schrie der schmale Simpelmeier grell. »Herr Hauptfeld! Ich habe keine Verbände. Ich verblute! Ich verblute! Bringen Sie mir doch Verbände! Helft mir doch, Kameraden!«
Hauptfeldwebel Kunze hörte ihn nicht. Er wollte ihn nicht hören. Er zog mit seinem Freßsack weiter, umging den Eimer mit der daranklebenden Hand von Müller III, stieg über einen unkenntlichen, mit Staub panierten Kopf hinweg (es war der Schädel des kleinen Brehm) und sammelte weiter, was an Eßbarem herumlag von der zertrümmerten Feldküche.
Tamara hockte auf einem Baumstumpf, stierte vor sich hin und kümmerte sich um nichts, was um sie vorging. Ihre Landsleute würden sie an den
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