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Die Rollbahn

Die Rollbahn

Titel: Die Rollbahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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nächsten Baum hängen, wenn sie nach Dubrassna kamen … sie wußte es und wartete nun, bis Kunze seine Marschverpflegung aus den Trümmern und dem Staub aufgelesen hatte.
    Der schmächtige Simpelmeier stützte sich auf beiden Armen auf. In seinen Mausaugen flimmerte das Grauen.
    »Kameraden!« schrie er über die stille Trümmerstätte. »Helft mir doch! Ich verblute … ich verblute …« Er preßte, indem er sich zurückfallen ließ, beide Hände auf die grauenvolle Wunde und riß den Mund wie eine riesige Höhle auf. »Hilfe! Hilfe! Ihr könnt mich doch nicht verrecken lassen! Nehmt mich doch mit! Nehmt mich doch mit! Ihr seid doch Christen! Ihr glaubt doch an Gott! Nehmt mich mit.«
    »Scheiße«, sagte Kunze leise. Er stellte seinen halbgefüllten Sack hin und näherte sich durch die Trümmer des Bauernhauses Simpelmeier. »Halt den Mund, mein Junge«, sagte er mühsam.
    »Verbinde mich, Kunze«, sagte Simpelmeier schwach. In seinen fiebrigen Augen strahlte eine milde Hoffnung auf.
    Kunze hob die breiten Schultern.
    »Wir brauchen die Verbände für uns, Julius.«
    »Ihr wollt mich verrecken lassen …« Seine Stimme überschlug sich. »Wie Brehm wollt ihr mich …«
    »Schnauze!« schrie Kunze. »Alles ist im Eimer! Hinter uns die Artillerie, vor uns die HKL! Die 5. Kompanie ist hops! Es gibt keine Kompanie mehr … es gibt nur ein paar Überlebende … und das sind wir! So ist's, Julius! Finde dich damit ab. Von mir aus bete noch mal! Ich habe diese Scheiße hier nicht erfunden! Bedanke dich beim ›Führer‹ dafür.«
    Simpelmeier preßte seine Hände noch immer auf den zerfetzten Oberschenkel. Er spürte keine Schmerzen mehr … nur ein eiskalter Strom durchzog seinen schmächtigen Körper und drang in alle Adern … von den Zehen bis ins Gehirn.
    »Du willst mich hier liegenlassen, wenn der Iwan kommt?«
    »Wie soll ich dich mitschleppen? Wohin denn? Unterwegs himmelst du doch ab …«
    »Du gemeines, feiges Schwein!« sagte Simpelmeier laut.
    Kunze hob die Schultern. »Es geht um die eigene Haut, Julius. Es geht um das bißchen dreckige Leben. Man hängt daran.« Er erhob sich und nahm seinen Sack über die Schulter. Simpelmeier zuckte empor.
    »Nimm mich mit, Kunze!« brüllte er.
    »Es geht nicht.«
    »Das ist Mord, was du machst! Du bist ein Mörder! Mörder!«
    »Ich nicht … der Krieg!«
    Simpelmeier richtete sich auf. Er kroch auf allen vieren Kunze durch die Trümmer nach … das zerfetzte Bein schleifte er hinter sich her. Wo er kroch, hinterließ er im Staub und Dreck eine breite Spur Blutes. Wie ein Hund, winselnd und wimmernd, schwankte er auf allen vieren Kunze nach, der keuchend seinen Verpflegungssack schleppte.
    »Nimm mich doch mit, Kunze«, schrie Simpelmeier. »Du kannst mich doch nicht hier liegenlassen! Du bist doch mein Kamerad! Drei Jahre waren wir zusammen … drei Jahre, Kunze. Du kannst mich doch nicht einfach verrecken lassen … das kannst du doch nicht. Nimm mich doch mit!«
    Kunze blieb stehen. Vor ihm auf der Erde lag eine Pistole. Eine 08. Sie mußte Müller III gehören, von dem man nach dem Volltreffer nichts mehr wiederfand.
    Kunze bückte sich, lud die Pistole durch … das Schloß war nicht versandet, es schnappte ein. Langsam drehte er sich herum, blickte herunter auf den auf ihn zukriechenden weinenden und wimmernden Simpelmeier.
    »Hier!« sagte er. Er warf ihm die Pistole vor wie einem Hund einen Knochen. »Tu es selbst. Es ist besser, als wenn der Iwan dich totschlägt.«
    »Kunze …«, stammelte Simpelmeier. Er sank zusammen und lag mit der Backe auf der Pistole im Dreck. »Kunze … du kannst mich doch mitnehmen … Ich habe eine Frau zu Hause … drei Kinder … drei kleine Kinder, Kunze. Ich brauche doch nicht zu sterben … du kannst mich doch retten, Kunze. Nimm mich doch mit … nimm mich mit …«
    Hauptfeldwebel Kunze stieg aus den Trümmern. Er bückte sich nach vorn, denn der Sack war schwer. Aber er bedeutete Leben auf der Flucht durch die Wälder. Leben in Weißblechdosen … Er winkte Tamara zu. Sie stand auf und ging dem Wald zu, langsam, mit den stämmigen, schmutzigen Beinen den Staub aufwirbelnd.
    »Kunze!« schrie Simpelmeier grell. Er sah, wie der Hauptfeldwebel wegging, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Du Schwein!« brüllte Simpelmeier auf. »Du Hurenschwein! Du Mörder! Mörder!« Er wälzte sich auf die Seite, ergriff die Pistole und legte sie auf den breiten Rücken Kunzes an. Aber seine Hand schwankte wie ein Halm im Wind und der

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