Die Rollbahn
vor die Augen geschlagen. Er heulte leise vor sich hin und betete in einem Atemzug. Ein Loch weiter lag Kunze auf dem Rücken wie eine umgedrehte Küchenschabe und war aufgelöst in Angst und Feigheit. Über die Dorfstraße jagten mit grauenhaften Schreien einige Pferde des Trosses. Glühende Granatsplitter hatten ihre Körper zerfetzt und das Fell verbrannt. Mit aufgerissenen Mäulern und schrecklich geblähten Nüstern galoppierten sie durch die Einschläge und erfüllten die kurzen Feuerpausen mit ihren Todesschreien.
Über alles hinweg zogen die in der Sonne blinkenden Leiber der Kampfflieger. Bei der 4. Artillerieabteilung ging eine Staffel auf Angriffstiefe und belegte die Stellungen mit Bomben und Bordwaffenbeschuß. Die wenigen Flak-Geschütze schossen verwirrt um sich, bis auch ihre Besatzungen sich mit schnellen Sprüngen in Sicherheit brachten.
Die Erde, die Luft, der Himmel und die Hölle gehörten den Russen.
In der HKL lagen Strakuweit und Leskau noch immer zusammen in ihrem Trichter und starrten hinüber zum Wald von Bajewo.
Eine Wand dunkler, schnaufender, dröhnender Ungeheuer wälzte sich über die Ebene auf sie zu. Vierzig … sechzig … hundert … unzählbar …
Strakuweits Gesicht war fahl. »Panzer«, stammelte er.
»T 34.«
»Hier kommen wir nicht wieder 'raus, Fritz.« Er umklammerte Leskaus Arm. »Oder soll'n wir türmen?«
Leskau starrte hinüber zu den sich träge anwälzenden Panzern. Dort kommt der Untergang der deutschen Front, dachte er. Dort sehen wir das Ende des Krieges. So also sieht es aus, wenn eine Armee zusammenbricht … ein ganzes Volk … ein geschichtlicher Traum. Eine Erde voll stählerner Riesen und ein Himmel voll glitzernder Riesenvögel …
»Komm, Theo!« sagte er.
Sie kletterten aus dem Trichter und sprangen in langen Sätzen rückwärts, der Feuerwand der russischen Artillerie folgend.
Während die russischen Armeen aufmarschierten und der deutsche Generalstab, fast fasziniert von der unvorstellbaren Stärke des Gegners, aber ohnmächtig, ihr entgegenzutreten, auf den Beginn der Offensive wartete, die – wie Hitler genial annahm – in der Südukraine stattfinden würde, während sich die Alarmnachrichten aus dem Mittelabschnitt häuften, lag die polnische Stadt Nasielsk inmitten eines herrlichen Friedens.
Sanitäts-Unteroffizier Heinrich hatte seine Bekanntschaft mit der Lehrerin Elsbeth Holzer nicht bei der einen Begegnung belassen. Schon zwei Tage später war er bei den Gutsleuten Rehmde erschienen, nicht zufällig, sondern weil die kleine Tochter sich den Magen verdorben hatte und Stabsarzt Dr. Seidel sagte: »Heinrich, gehen Sie 'rüber zum Gut. Mit vier Semestern Medizin müssen Sie so weit sein, eine Magenverstimmung zu heilen.«
So hatte er Elsbeth wiedergetroffen. Sie war von Nasielsk herübergekommen und hatte – unwissend, daß die kleine Monika zu Bett lag – eine große Tüte Bonbons mitgebracht. Sie begegnete Walter Heinrich wie einem alten Bekannten. In ihren graugrünen Augen blinzelte der Schalk.
»Welch ein Zufall«, hatte sie gesagt. »Durch die Krankheit Monikas kommen jetzt Sie in den Genuß von Bonbons.« Sie hatte ihm die Tüte hingehalten und Heinrich hatte einen Bonbon herausgenommen.
»Sie haben ja Ihre ganze Zuckerkarte geräubert.«
»Irrtum! Außer Lehrerin bin ich auch noch kommissarische Leiterin einer polnischen Bonbonfabrik. Wir wenigen Deutschen sind hier überhaupt das Mädchen für alles. Ich gebe noch Berufsschulunterricht, Segelflugmodellbau, ich züchte in der Schule unter dem Dach Seidenraupen, und in der übrigen Zeit habe ich Mühe genug, die durch Nasielsk kommenden Landser von mir fernzuhalten.«
»Das dürfte von allen Ihren Aufgaben die schwerste sein«, hatte Heinrich geantwortet, und lachend waren sie durch den kleinen Park gegangen, der das Gutshaus der Rehmdes in Sczynno umgab.
Als Heinrich zwischen großen Rhododendronbüschen Elsbeth das erstemal küßte, und darauf wartete, daß sie sich wehrte oder ihn schlug, war er erstaunt gewesen, daß sie nur lächelnd den Kopf zur Seite genommen und leise gesagt hatte:
»Jetzt bist du aber stolz, nicht wahr?«
Er hatte darauf keine Antwort gewußt und war neben ihr her zurück zum Gutshaus gegangen.
In den folgenden Tagen hatten sie sich öfter getroffen. Meistens bei der kleinen Monika am Bettchen, ein paarmal auch abends im Park des Gutshauses. Einmal sogar hatte sie Heinrich in Sczynno im Lazarett besucht, und Stabsarzt Dr. Seidel hatte blinzelnd
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