Die Rollbahn
abgewöhnen, Inge. Du schläfst jetzt bei mir, und du kannst nicht verlangen, daß ich meinen Besuch deinetwegen 'rausschmeiße.«
»Besuch?«
»Gustav, der König von Berlin.«
»Ich werde solange Spazierengehen.«
»Solange?« Grete wieherte los. »Mädchen – unter 'ner Nacht macht der es nicht. Du kannst dich ja 'rumdrehen und Watte in die Ohren stopfen. Gustav kommt jeden Samstag.« Sie sah auf ihren Leberfleck und tippte mit dem Zeigefinger darauf. Ihre Nägel waren lilarot lackiert. »Weißt du, wie der Genießer das nennt? Den Wegweiser zur Straße des Glücks. Wird manchmal direkt poetisch, der Gustav …«
Aufgelöst, angeekelt, aber hilflos allem preisgegeben, was auf sie einstürmte, zog Inge Hellwag zu Grete Bollow in das Zimmer.
Es war ein großer Raum, breit genug für zwei Betten. Da Grete noch arbeiten mußte, hatte sie ihr den Schlüssel gegeben.
So saß nun Inge allein auf ihrem Bett und sah sich im Zimmer um.
Auf dem Nachttisch Gretes stand ein Bild in einem schweren Silberrahmen. Ein dickes, breit lächelndes Gesicht. Das Gesicht eines Fauns. Unter dem Bild stand in einer zierlich unbeholfenen Schrift mit einem dicken Füller geschrieben: »Meinem Häschen in glühender Liebe.«
Gustav. Gustav Strapinsky.
Ehemaliger Wärter im Berliner Zoo. Abteilung Wasserbüffel und Giraffen. Zukünftiger Anwärter einer Villa in Dahlem.
Inge räumte ihre Sachen ein und saß dann wieder auf dem Bett. Wie sollte das alles weitergehen? Wenn sie an Grete und die Samstagsbesuche Gustavs dachte, bekam sie einen bitteren Geschmack. Sie konnte doch nicht danebenliegen … sie konnte es doch nicht mit ansehen, mit anhören … Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und weinte …
In der Nacht schreckte sie empor durch das schaurige, auf und ab schwellende Heulen der Sirenen. Grete war schon aus dem Bett und schlüpfte in eine lange Hose und einen dicken Pullover, die sie vor dem Niederlegen schon bereitgelegt hatte.
»Das mußt du kennen«, sagte sie. »Die kreisen schon 'ne Weile über Berlin. Ehe die Sirenen heulen, fallen manchmal schon die Klötze vom Himmel.«
Die Scheiben zitterten. Flak bellte auf, den Nachthimmel überzog ein helles Flackern. Plötzlich blendete ein heller Schein Inges Augen … traubenförmig schwebten Leuchtkugeln vom Himmel herab über Berlin. Es sah herrlich aus, phantastisch – wie gebannt stand Inge am Fenster und schaute hinaus.
»Verrücktes Huhn!« schrie Grete Bollow. Sie zog Inge aus dem Zimmer fort auf die Treppe. »Wo die Christbäume stehen, da hagelt es Särge! Runter in den Keller!«
Sie hetzten die Treppen hinunter, vorbei an anderen Hausbewohnern mit Koffern und Taschen in der Hand, an betenden alten Frauen vorbei und zwei Greisen, die einen Stahlhelm und Gasmasken trugen und als Hauswarte für Ordnung zu sorgen hatten.
Eine Eisentür mit einem großen Hebelverschluß nahm sie auf … ein Keller mit Sitzbänken längs der getünchten Wand. Vor einem Notausstieg standen Sandkästen, eine Spritze, drei Eimer Wasser, eine Feuerpatsche, zwei Einreißhaken und eine Axt. Grete setzte sich neben den Notausgang und zog den Mantel, den sie lose umgehängt hatte, enger um ihre Schulter.
Der Boden zitterte und bebte, hob und wiegte sich.
Die ersten Einschläge. Die ersten Toten dieser Nacht. Die ersten Schreie. Die erste Erlösung.
Inge Hellwag drückte sich gegen die Wand. Sie spürte das Beben der Erde durch ihren ganzen Körper rieseln. Die Lampe über ihnen pendelte. Es krachte laut … Kalk rieselte von der Decke und überzog die sich Duckenden. In der anderen Ecke betete noch immer die Frau, die betend die Treppe hinuntergelaufen war. Ein gestrickter Schal bedeckte ihren weißen Kopf und fiel über ihr fahlgelbes, runzeliges Gesicht.
Der Keller wurde durch einen neuen Einschlag erschüttert. Er war stärker als der erste Einschlag … die Birne flatterte und erlosch. Tiefe Dunkelheit erfüllte den Raum. Stöhnen quoll auf, Weinen … die Stimme eines der Greise, des Hauswartes.
»Das war im Nebenhaus. Wir haben Glück, Leute. Die nächste geht drüber weg.«
Zwei Taschenlampen flammten auf. Die Frau mit dem Schal lag auf den Knien und betete. Eine junge Mutter hatte ihr Kind an sich gedrückt … sie lag mit dem Oberkörper über dem weinenden Mädchen, als wolle sie mit ihrem Rücken zuerst die herabstürzende Decke auffangen. Der Mann neben ihr hatte den Arm um sie gelegt und den Kopf zurückgeworfen … ein alter Mann mit einem weißen
Weitere Kostenlose Bücher