Die Rollbahn
mich doch mit … nimm mich doch mit … Ich habe drei kleine Kinder … Nimm mich doch mit … mit … Und er hatte ihm eine Pistole hingeworfen …
Kunze sank wieder auf die Knie.
»Wo ist die Truppenverpflegung?«
»Die habe ich gerettet, Herr Major.«
»Gerettet? Abgehauen sind Sie damit! Selbst fressen wollten Sie die!«
»Ich habe gehofft, auf meine Kompanie zu treffen …«
»Haben Sie gehofft? Warum sind Sie dann nicht in Dubrassna geblieben, bis die Kompanie zurückkam?«
Kunze schwieg.
»Warum?« brüllte Schneider.
»Ich hatte Angst, Herr Major …«
»Erschießen!« sagte Leutnant Vogel mit fast jubelnder Stimme. Major Schneider fuhr herum.
»Habe ich Sie gefragt, Vogel?«
»Herr Major …«
»Dies ist ein Verhör, aber kein Gericht! Wenn Sie schon Wert auf militärische Spielregeln legen, so halten Sie sie bitte auch ein!«
Major Schneider sah auf seine Armbanduhr.
»Wir müssen weiter. Faber, ich übergebe Ihnen den Hauptfeldwebel Kunze in Gewahrsam. Er wird abgeurteilt, wenn wir die nötige Ruhe haben.«
Vogel fuhr herum. »Nicht sofort erschießen?«
»Wir wollen einen Menschen nach dem Kriegsrecht verurteilen, Herr Leutnant, aber nicht ermorden!«
»Eine Ausnahme bildet der Notstand! Wir haben ihn!«
»Haben wir den?« Major Schneider blickte sich um. »Ich fühle mich nicht in Not. Wir sind eine intakte Truppe, die sich durchschlägt. Eine Kampfgruppe, die ein gestecktes Ziel erreichen muß – und wird! Betrachten Sie das als Notstand, Leutnant Vogel?«
Vogel spürte die Schlinge, die ihm Schneider legte. Er lächelte mokant und nahm die Hacken zusammen. Für wie dumm hältst du mich, dachte er. Du kommst dir mit deinen silbernen geflochtenen Schulterstücken so überlegen vor und bist doch nur der kleine Moritz, dessen Denken bis zum Dnjepr reicht. Du bist ein Schaf in der Uniform eines Majors.
»Ich betrachte es als eine Ehre«, sagte er pathetisch.
Feldwebel Steigert riß Kunze vom Boden empor und schob ihn zu Oberleutnant Faber hin. Um den Wagen herum kam Leskau. Er nahm Kunze in Empfang und löste zunächst die Fesseln auf dem Rücken. Verwundert, von unten her, sah Kunze zu Leskau auf.
»Danke, Fritz«, sagte er leise.
»Wenn du Dummheiten machst, schieße ich sofort«, sagte Leskau hart.
»Du tätest mir damit einen großen Gefallen, Fritz.«
»Auf einmal? Wirst du mutig?«
»Ich habe es satt.« Er rieb die Hände, wo die Koppel den Blutkreislauf eingeschnürt hatten. »Sie erschießen mich ja doch. Warum nicht gleich? Warum erst warten?«
Er zuckte zusammen, als Major Schneider an den Wagen trat und ihm einen Karabiner reichte.
»Hier, Kunze.«
»Für mich, Herr Major?« Seine Hände bebten, als er den Schaft der Waffe umklammerte.
»Wir brauchen jeden Mann für den Durchbruch! Wenn wir über dem Dnjepr sind, reden wir weiter! Tun Sie wenigstens jetzt Ihre Pflicht. Sie kämpfen um Ihr Leben …«
»Um meine gesetzmäßige Hinrichtung, Herr Major …«
Major Schneider wandte sich ab.
»So kann man es auch nennen«, sagte er und ging.
Um 10 Uhr vormittags, wie es auf dem Schein stand, meldete sich Inge Hellwag in Berlin bei der Außenstelle des Königsberger Rüstungswerkes.
Der Abschied von ihrem Vater war weniger schmerzvoll gewesen, als sie es befürchtet hatte. Der alte, zwangspensionierte Reichsbahnrat hatte sie stumm umarmt, als sie weinend ihren Gestellungsbefehl auf den Tisch legte.
»Geh nur«, hatte er später gesagt. »Mach dir keine Sorgen um mich. Für einen alten Mann findet sich auf der Welt immer ein Eckchen oder ein Winkel, wo er sich verkriechen kann. Solange wir diese Ecken noch haben, dürfen wir glücklich sein. Wir leben heute in Deutschland ja nur noch in den Winkeln und überlassen die Straße und die Säle den ›braunen Bataillonen‹. In diesen Winkeln konservieren wir uns, während die anderen sich austoben und zugrunde gehen.« Er lächelte schwach und streichelte die Haare Inges. Über sein faltiges Gesicht zog ein weises Leuchten. »Vielleicht wird es später einmal heißen: Das neue Deutschland entstand aus einer Konservenbüchse. Seien wir glücklich, daß es uns trotz allem gelingt, noch so viele Ideale aufzuheben.«
Er hatte sie nicht mit zum Bahnhof begleitet. Er hatte Abschied von ihr in der Wohnung genommen. Nach alter Art hatte er Inge gesegnet, ehe er sie gehen ließ. Taumelnd war sie in die Straßenbahn gestiegen und zum Bahnhof gefahren. Die ganze Fahrstrecke über hatte sie am Fenster gesessen und hinausgestarrt
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