Die Rollbahn
auf die vorbeiflutende Landschaft. Aber sie hatte nicht wahrgenommen, was sie sah. Nur ein Gedanke war es, der durch ihren ganzen Körper flutete, mit dem Blutkreislauf gegen das Herz schlug und sie zwang, das Taschentuch vor die Lippen zu pressen, um ein lautes Schreien aufzuhalten: Ich sehe ihn nicht wieder … ich sehe ihn nicht wieder …
Jetzt, in Berlin, zu Fuß durch die Trümmer der Häuserreihen gehend, hatte sich eine große Gleichgültigkeit in ihr ausgebreitet. Wachstuch, dachte sie wieder. Eine Seele aus Wachstuch … und du wirst es überleben. Einmal ist auch dieser Krieg vorbei – dann kommt Fritz zurück, und ein neues Leben beginnt. Ganz von vorn. Ganz neu. Ganz für uns … Ein wirkliches Leben. –
In den Trümmern wühlten Frauen und alte Männer, Kinder und Krüppel nach den letzten Habseligkeiten, die brauchbar waren für einen neuen Anfang in irgendeinem Keller, zwischen abgestützten Mauern und mit dünnem Drahtglas verschlossenen Fensterhöhlen.
Ein leichter, süßlicher Geruch wehte ihr von den weiten Trümmerfeldern entgegen. Verwesende in den verschütteten Kellern. Niemand holte sie heraus, niemand wagte es, durch die dauernd wieder einbrechenden Trümmer zu kriechen, niemand hatte ein Interesse daran, zu wissen, wer da unten verfaulte … Frau Meier oder Herr Schulte … Besser er als ich, dachte man. Es wurde sogar ein Witz, ein makabres Wortspiel …
Was galt denn noch ein Mensch?
Inge ging durch diese Straßen mit in den Nacken geworfenem Kopf. Das war es, was sie sehen sollte, das sollte sie weich machen für die Gelüste des Herrn Personalchefs … an der Zahl der Toten sollte sie lernen, wie schön das Leben ist. Ein widerlicher Vergleich, der sie mehr erschütterte als abstieß.
Der Leiter der Außenstelle hauste in einem Büro, das verhältnismäßig gut erhalten war, das noch Glasscheiben besaß und keine gesprungenen Decken. Er war über das Kommen Inge Hellwags bereits unterrichtet worden, hatte die Personalakte vor sich liegen (wie schnell sie arbeiten, durchfuhr es Inge) und musterte Inge beim Eintritt ein wenig verwundert und, wie es schien, nicht gerade feindlich.
»Sie haben Mut«, sagte der Mann. Er war etwas rundlich, sah aus wie ein Beamter und trug im Knopfloch seines hellen Sommersakkos ein kleines silbernes Abzeichen. Zwei Runen … SS.
»Wieso?« fragte Inge.
»Erst wirft man Ihren Vater hinaus …«
»Das ist eine Angelegenheit meines Vaters und geht mich nichts an.«
»Dann beleidigen Sie den Personalchef …«
»Er beleidigte mich! Er machte mir ein schmutziges Angebot.«
Der SS-Mann lächelte schwach. »Wenn man Sie ansieht, kann es sich nur um ein süßes Angebot handeln.«
»Das ist eine Sache der Auffassung.«
»Und nun sind Sie in Berlin und ich soll Sie dort einsetzen, wo die Hölle am schwärzesten ist und Sie am ehesten vor die berühmten Hunde gehen.«
Inge Hellwag blickte auf ihre staubigen Schuhspitzen.
»Legen Sie sich keinen Zwang auf.«
»Sie wissen nicht, was Sie da sagen, Fräulein Hellwag.«
Inges Kopf fuhr hoch. Daß sie jemand in diesem Raum mit Fräulein anredete, war schon des Verwunderns wert. Der Klang der Stimme aber verwirrte sie völlig. Er war mild, fast väterlich. Aha, dachte sie. Er versucht es mit der sanften Platte. Er spielt den gütigen Onkel. Sie beschloß, sich einzuigeln und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es.«
»Ich will Ihnen helfen, Fräulein Hellwag.«
»Sie – mir?«
»Bin ich ein Ungeheuer?«
»Ich habe von dem Zeichen, das Sie im Knopfloch tragen, bisher noch nichts Gutes erfahren.«
Der SS-Mann sah auf seine dicken Hände mit den wulstigen Fingern. »Sie sind ehrlich … Sie sind verbrecherisch ehrlich. Das sollten Sie nicht sein. Es ist bisher, solange es Menschen gibt, noch keinem gut gegangen, der immer die Wahrheit sagte. Die angenehmste Wahrheit ist die Lüge, das sagte mal ein Philosoph. Sie wurde zum Moralmittelpunkt unserer Welt – diese Lüge.«
Inge Hellwag setzte sich auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Sie mußte sich einfach setzen, so erstaunt war sie.
»Hat man mich nach Berlin kommen lassen, um Moralphilosophie zu diskutieren?«
»Nein.« Der SS-Mann blickte nicht auf. »Man hat Sie nach Berlin kommen lassen, damit Sie hier sterben.«
Das Wort stand im Raum wie eine mächtige, drückende, die Luft aufsaugende Wolke. Sterben! In Inges Hals quoll ein Würgen empor. Ihr Atem flog.
»Man hätte mich auch in Königsberg umbringen können.«
»Wenn wir
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