Die Rollbahn
jemanden umbringen, so brauchen wir noch seine Arbeitskraft. Er stirbt in den Sielen, wie man so poetisch sagt. Bis zum letzten Atemzug für Führer und Großdeutschland – das ist ein volles Ausschöpfen des deutschen Arbeitspotentials! Das ist das ganze geheimnisvolle Prinzip der KZs. Arbeiten bis zum Umfallen und Verrecken.«
Inge Hellwag fuhr ein kalter Schauer über den Rücken trotz der dumpfen Hitze dieses geschlossenen Raumes.
»Jetzt sind Sie verbrecherisch ehrlich.«
»Es hört uns keiner.« Der SS-Mann erhob sich. Inge setzte sich geradeauf … sie ging in Abwehrstellung, falls er um den Schreibtisch herum auf sie zukommen sollte. Aber er blieb am Fenster stehen, mit dem Rücken gegen den Rahmen gelehnt, und sah sie an.
»Ich werde Sie bei der Verteilerstelle einsetzen. Sie können Schreibmaschine?«
»Ja.«
»Stenographie?«
»Ja.«
»Silben?«
»180.«
»Es ist eine Stelle, die die Fertigwaren an die Rüstungszweige weiterleitet. Wir stellen Ersatzteile her, die von Fabriken in ganz Deutschland eingebaut werden. Die Verteilungsstelle schlüsselt die Anlieferungen auf und leitet sie an die Fabriken weiter.«
»Unterirdisch?«
»Quatsch! Es ist ein trockener Bürokram. Sie erhalten eine alte Schreibmaschine, Briefbogen, Bestellkarten, Transportbogen, Kontrollzettel … all den dummen Papierkram, ohne den selbst im Krieg eine Rüstung nicht auskommt. Für eine Schraube dreißig Begleitpapiere.«
Inge sah auf ihre Hände. Sie zitterten und umklammerten die kleine Ledertasche auf ihrem Schoß.
»Danke«, sagte sie leise.
»Haben Sie schon ein Zimmer?«
»Nein. Ich bin doch ganz fremd in Berlin.«
»Keine Bekannten, Verwandten?«
»Nichts.«
»Wir haben ein Haus gemietet. Wenn Sie mit einem anderen Mädchen zusammen in einem Zimmer wohnen wollen … wir lassen noch ein Bett hineinstellen.«
»Das wäre schön.« Inge erhob sich. Sie trat an den Schreibtisch heran und streckte dem SS-Mann weit ihre Hand entgegen. »Ich danke Ihnen nochmals.«
Er drückte ihre Hand. Es war ein schlaffer, widerlich fleischiger Druck, aber Inge hielt ihn aus.
»Morgen früh treten Sie Ihre Stellung an. Ihre Kollegin im Vorzimmer hat die Adresse. Sie ist auch das Mädchen, mit dem Sie das Zimmer teilen. Heil Hitler!«
»Heil Hitler!« sagte Inge leise und verließ den Raum.
Draußen, im Vorzimmer, lernte sie Grete Bollow kennen.
Abiturientin, 24 Jahre, brünett, etwas drall in Brust und Hüften, geschminkt, mit einem tiefen Ausschnitt in dem feinen wollenen Sommerpulli und einem kleinen Leberfleck auf dem linken Brustansatz.
»How do you do«, sagte sie frech. Ihr grellroter Mund war ordinär, als sie lachte. Sie setzte sich auf den Schreibmaschinentisch und ließ die langen Beine pendeln. Sie trug hauchdünne Strümpfe, Stöckelschuhe und einen spitzenbesetzten Schlüpfer. Man sah ihn in dieser Stellung. »Da staunste, was? Seidenstrümpfe, Pariser Pullover, italienische Schuhe … Kommt alles von Gustav.«
Inge Hellwag blickte von den weiten Beinen des Spitzenschlüpfers weg. »Wer ist Gustav?«
»'ne wundervolle Type von Schieber! Der kleine König von Berlin! Na ja …« Grete Bollow stellte sich wieder auf ihre Bleistiftabsätze. »Bist ja noch neu hier im Laden. Kommst auch noch hinter die Schliche und lernst die Gärten kennen, wo die Kirschen wachsen.«
»Ich glaube nicht.«
»Du glaubst!« Grete Bollow lachte hell. Mit flinker Zunge leckte sie sich über die Lippen. »Was bist du armes Luder hier allein in Berlin ohne 'ne richtige Schieberbekanntschaft. Was die von dir verlangen, ist nischt gegen das, was sie dir dafür bringen, 'n bißchen stillhalten, das ist alles … und du lebst wie 'n Nachkomme von Krupp!«
Inge Hellwag schwieg. O Fritz, dachte sie. Das ist jetzt Deutschland! Das ist aus uns geworden … Schieber, Huren und kranke, arme, alte Leute, die aus den Trümmern die letzten Stoffetzen zusammensuchen, verbeulte Kochtöpfe, zerrissene Betten, zersplittertes Holz, zerdrückte, durchlöcherte Kleider, ein paar Konserven … Das ist Deutschland, für das du kämpfst. Dein Ideal! Dein Reich!
Die Stimme Grete Bollows riß sie empor.
»Der Alte sagt, wir pennen zusammen?«
»Ja.«
»Ich heiße Grete.«
»Inge …«
»Weiß schon. Kenne deine Personalpapiere. Hast 'ne freche Klappe gehabt. Anstatt beim Personalchef 'n bißchen killekille zu machen …«
»Grete, hör auf.«
Grete Bollow zupfte an ihrem tief ausgeschnittenen Pullover. »Diese Prüde mußte dir bei mir
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