Die Rollbahn
Schnurrbart. Ihr Vater … Drei Generationen in Erwartung des Todes, gefaßt, zu sterben. Hilflose Kreaturen, die nicht wußten, warum dies alles war und warum sie litten.
Grete rückte näher an Inge heran. »Wenn es heute richtig gebumst hat, bekomme ich Samstag einen neuen Ring«, flüsterte sie ihr ins Ohr. Inges Kopf fuhr herum.
»Einen Ring? Woher?«
»Von Gustav. Wenn andere in die Keller kriechen, kommt er aus ihnen hervor wie 'ne Ratte. Und er sammelt Schmuck … Was braucht 'ne Leiche Schmuck im Grab, nicht wahr?«
Inge wurde es übel. »Das ist Leichenfledderei«, sagte sie mühsam. Sie rückte von Grete ab und fror.
Grete Bollow schüttelte den Kopf. »Ausdrücke hast du! Das ist Rettung des Volksgutes! Kampf dem Verderb! Wir leben nicht mehr im alten Ägypten, wo man die Toten mit Ringen und Goldketten beladen begrub.«
»Auf Plünderung steht Todesstrafe.«
»Huh!« Grete lachte laut und legte den Arm um Inges Schulter. Widerwillig, weil sie nicht zur Seite rücken konnte, ließ es Inge geschehen. »Meinen Gustav und hinrichten! Die leben doch alle von ihm, die ganzen Bonzen, die ihn anzeigen müßten. Die kommen doch jeden Morgen nach 'nem Angriff: Gustav, haste nicht 'n paar Ohrringe für meine Flamme? Gustav, ich brauche ein Kollier … Gustav … Gustav …«
»Das ist ja schrecklich«, sagte Inge entsetzt.
»Das ist der Verfall der guten Sitten.« Grete sagte es geziert wie eine alte Lehrerin. Dann lachte sie wieder und schlug die Beine übereinander. »Wenn wir schon alle im Eimer sind, so soll er wenigstens schön voll mit Jauche sein.«
Der alte Hauswart kam in den Keller zurück. »Sie fliegen ab nach Potsdam. Am Zoo hat's ganz schön gebumst. Da brennt alles.«
Grete erhob sich und zog Inge mit sich hoch. »Komm, wir gehen wieder 'rauf. Die entwarnen erst, wenn die Tommys über Norddeutschland sind.«
Inge lag in ihrem Bett und starrte an die weiße, rissige Decke. Das Fenster war zersplittert, der Rahmen aus der Wand gerissen … verstreut im ganzen Zimmer lagen Kalkbrocken, Glasscherben und Mauerstücke. Grete hatte das Bett ausgeschüttelt und sich einfach hineingelegt. »Laß alles liegen, wie's ist«, hatte sie gesagt. »Morgen können wir aufräumen.«
Nun schlief sie. Ihr Atem schwebte durch die Dunkelheit … ein wenig seufzend, langgezogen … der Leberfleck auf der linken Brust mußte sich jetzt auf und ab heben wie ein kleines Boot auf einem bewegten Meer.
Für Inge gab es keinen Schlaf. Sie hatte das Bedürfnis, still in die Kissen zu weinen, aber sie fand keine Tränen. Sie kam sich ausgebrannt vor … leer vor Grauen und Entsetzen über das, was sie in diesen wenigen Stunden in Berlin gesehen und gehört hatte. Vielleicht redet sie mehr, als an Wahrheit dahinter ist, versuchte sie sich zu trösten, aber sie spürte, daß es ein schwacher Trost war, der nicht tiefer drang bis zu ihrem willigen Hirn, es zu glauben. Das Herz glaubte es nicht. Es war voll Sehnsucht nach Königsberg, nach dem Vater, nach Fritz Leskau, den sie nie mehr sehen sollte, nach Frieden …
Sie spürte, daß ein Volk noch nie so rettungslos untergegangen war wie das deutsche in diesen Tagen und Monaten …
Über Sczynno brach eine Flut von Verwundeten herein.
Die großen Lazarette von Minsk wurden geräumt … Baranowitschi schickte die Massen zerfetzten Fleisches weiter nach Białystok … Białystok leitete weiter nach Sokolow, nach Warschau, nach Thorn … Und über das kleine Lazarett Sczynno ergoß sich eine Welle von Blut und Eiter, von Papierbinden und schreienden Menschen, von Sterbenden und Halbirren, daß Stabsarzt Dr. Seidel mit seinem Sanitätsstab fast hilflos zwischen den Stöhnenden und Stinkenden herumwatete und nicht wußte, wo er zuerst anfangen sollte und wo überhaupt ein Ende des Elends war.
Sanitätsunteroffizier Heinrich operierte jetzt selbst mit. Seine vier Semester Medizin reichten aus, um brandige Beine zu amputieren, vereiterte Amputationsstümpfe weiter zu kürzen, Sterbenden durch Morphium das Vergehen leichter zu machen und Schußbrüche zu schienen.
Sogar eine Abteilung Hirnverletzter aus dem Lazarett Baranowitschi rückte in Sczynno ein … sie wurde bewacht wie eine Sträflingskolonne, kam in geschlossenen Wagen an und wurde in eine Baracke neben dem Lazarett eingesperrt. Hinter den vergitterten Fenstern sah man manchmal die bleichen, kahlgeschorenen Schädel durch die Scheiben starren, grinsend, maskenhaft, Alpträume für die, die draußen
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