Die Rollbahn
Zusammenbruch Napoleons wiederholt sich nicht bei der deutschen Armee! Wir werden siegen, Heinrich!«
»Warum sagen Sie das, Herr Stabsarzt?« Die Stimme Heinrichs war so sanft, daß Dr. Seidel herumfuhr. »Warum wollen Sie sich das einreden? Nur, um die äußere Haltung zu wahren? Nur, um sich selbst zu belügen und noch einen Sinn in unserer blutigen Arbeit zu sehen? Sie glauben es doch selbst nicht mehr …«
»Heinrich …«, sagte Dr. Seidel leise. Seine Stimme war belegt. »Sie sprechen mit Ihrem Chef …«
»Was uns trennt, ist nur das andere Schulterstück. Sonst sind wir nur Menschen …«
»Sie hätten nicht Medizin, sondern Machiavellismus studieren sollen. Sehen Sie doch ein, daß es unmöglich ist, Ihre Braut hinauszuschmuggeln! Es geht dabei um Ihren und meinen Kopf, wenn es herauskommt.«
»Zunächst geht es um den Kopf eines unschuldigen Mädchens, das man vergaß.«
»Soweit ist es ja noch nicht!«
»Aber es wird bald soweit sein. Und dann ist es zu spät, zu überlegen. Dann muß gehandelt werden.« Heinrich hob die Hände. »Ich bitte Sie, Herr Stabsarzt. Helfen Sie uns.«
Dr. Seidel wandte sich wieder ab. »Lassen Sie die alberne Theatralik! Es ist ein Verbrechen, überhaupt an so etwas zu denken. Es ist ein Verbrechen, daran zu glauben, daß einmal ein russischer Stiefel deutsche Erde betritt! Es ist undenkbar!«
»Uns stehen Hunderte Divisionen gegenüber. Tausende von Panzern, Tausende Flugzeuge, modernste amerikanische Waffen, ausgeruhte, sibirische Truppen. Und was haben wir?«
»Den Willen und jetzt auch den Zwang zu siegen!«
»Mit bloßen Händen?«
»Mit einer Schleuder besiegte David den Riesen Goliath.«
»Wir haben nicht einmal diese Schleuder …«
Dr. Seidel antwortete nicht. Er stand am Fenster und sah durch die helle Sommernacht hinüber zu der Baracke mit den Hirnverletzten. Sie lag in tiefer Dunkelheit. Nur eine helle Stimme flatterte durch die Nacht von ihr herüber. Der kleine Fähnrich Kurt Preitz sang eine Opernarie. Er bildete sich ein, ein großer Tenor zu sein, und verlangte den ganzen Tag über nach einem Wollschal, um seine wertvolle Stimme zu schonen.
»Wenn ich es kann, werde ich Ihnen helfen.«
»Mit einem Lazarettzug?« fragte Heinrich atemlos.
»Mit dem, was uns das Schicksal in dem Augenblick bietet.«
Heinrich trat einen Schritt auf Dr. Seidel zu. Seine Stimme stockte.
»Ich … ich danke Ihnen, Herr Stabsarzt.«
Dr. Seidel fuhr herum. Sein zerknittertes Gesicht überzog ein Zucken.
»Halten Sie den Mund, Heinrich!« schrie er. »Ich will von Ihnen nichts mehr hören! Keine defätistischen Reden mehr, keinen Zweifel an der deutschen Führung, keine Kritik an der deutschen Armee und keinen Unglauben an den Intuitionen unseres Führers! Verstanden?«
»Herr Stabsarzt …«
»Ich verbitte es mir, daß in meinem Lazarett eine solche Stimmung aufkommt! Durchbruch – Zusammenbruch – verlorener Krieg … das sind Latrinenreden, Unteroffizier! Jeder Zweifel am Endsieg ist ein Verrat an den armen Burschen, die da draußen liegen und für diesen Endsieg bluten und ihre Glieder lassen! Ich will nichts mehr davon hören!« Er hob den Arm, als Heinrich etwas erwidern wollte, und brüllte: »Raus! Gehen Sie, Unteroffizier! Übernehmen Sie für die Nacht Station III!«
Mit einer Kehrtwendung verließ Walter Heinrich die ›Messe‹ und schwankte durch die Nacht auf die Baracken zu. Station III war die Schwerverwundetenstation. Dort hockte Elsbeth bei dem Bauchschuß.
Stabsarzt Dr. Seidel sah Heinrich durch sein Fenster mit einem stillen Lächeln nach. Armer Kerl, dachte er. Wie recht hast du. Alles, alles ist verloren … aber wir dürfen unser Rückgrat nicht verlieren. Wir dürfen nicht auf der Erde kriechen … wir müssen mit hohlem Kreuz untergehen. Aufrecht! Man soll uns von außen besiegen, nicht von innen erweichen! Ein deutscher Soldat wird erobert, aber er schreit nicht um Hilfe und rennt wie ein Waschweib jammernd davon. Wir sterben in Zucht und Ordnung, wie die letzten Goten unter König Teja am Vesuv. Auch wenn es Blödsinn ist und ein dummes Heldentum, ein stures Abschlachten … man wird uns in ferneren Zeiten nie absprechen können, daß wir die einzigen waren, die den Sturm aus dem roten Asien aufhalten konnten … wir, die man uns allein ließ … verraten im Haß, der einmal über diese ganze Welt einen nie wieder zu revidierenden Irrtum bringen wird …
Er sah, wie Walter Heinrich die Baracke III betrat. Für einen kurzen
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