Die Rollbahn
vorbeigingen.
Jeden Nachmittag arbeitete Elsbeth Holzer jetzt als Hilfsschwester im Lazarett Sczynno. Nach dem Schulunterricht, der trotz der Frontlage unverändert gegeben werden mußte – Nasielsk ist tiefstes Hinterland, hieß es –, fuhr sie mit einem Rad hinaus nach Sczynno oder wurde von einem Kübelwagen des Lazarettes abgeholt. Sie machte Handreichungen, wusch die Verwundeten, trug die Verpflegung an die Strohsäcke, wickelte durchgeeiterte Verbände ab, hielt die Schalen, wenn die Wunden ausgewaschen wurden, und drückte den Gestorbenen die Augen zu.
In diesen Tagen sprach Walter Heinrich auch mit Stabsarzt Dr. Seidel über die Zukunft Elsbeths.
Es war an einem Abend nach einem neuen Transport. Erschöpft saßen sie in der ›Messe‹ und tranken einen Cognac, den der Flugplatzkommandant dem Lazarettpersonal spendiert hatte. Die beiden Unterärzte operierten noch, Elsbeth saß am Bett eines Sterbenden und kühlte ihm die Stirn mit Kompressen, wusch ihm den Mund aus und hielt seine fiebernde Hand fest, Bauchschuß … sieben Schüsse einer Maschinenpistole. Ein Junge von 18 Jahren, mit blonden Locken und einem Mund wie ein trotziges Mädchen. Er weinte in seiner Bewußtlosigkeit.
Walter Heinrich sah in das zerfurchte Gesicht seines Chefs. Auch er ist am Ende, dachte er. Er ist mit 43 Jahren ein Greis geworden. Es geht über unsere Kraft … unter unseren Händen verblutet die deutsche Jugend …
Dr. Seidels Kopf zuckte herum, als habe er einen Schlag erhalten.
»Heinrich?« Er lächelte wie verzeihend. »Ich habe gerade ein bißchen geträumt. Mit offenen Augen geschlafen. Was gibt' denn?«
»Wir können die Front nicht mehr halten, Herr Stabsarzt.«
»Das soll nicht unsere Sorge sein.«
»Orscha und Witebsk sollen erobert sein, sagen die Verwundeten. Der Russe rückt über die Rollbahn, die ihm die Partisanen freihalten, auf Minsk zu. Er hat den Dnjepr und die Beresina bereits überschritten … er geht auf Borissow zu.«
»Ich weiß.« Dr. Seidel nickte. »Wir haben ja schon das halbe Lazarett Borissow durchgeschleust.«
»Und er wird weiterrücken. Keiner kann ihn aufhalten.«
»Vertrauen Sie auf den Führer und sein Genie.«
Heinrich starrte Dr. Seidel an. Er sah kein Zucken in dessen Gesicht. Er meinte es ernst, so schien es. Heinrich schluckte.
»Ich mache mir Sorgen wegen Elsbeth, Herr Stabsarzt. Sie darf ihren Dienst nicht verlassen.«
»Das dürfen wir alle nicht, Heinrich.«
»Aber sie ist ein Mädchen!«
»Auch den Frauen kommen im Kriege, wenn es um den Bestand der Nation geht, große Aufgaben zu.«
»Das könnte von Goebbels sein.«
»Es ist von Goebbels«, sagte Dr. Seidel lächelnd.
Heinrich verkrampfte die Finger ineinander. Sein Gesicht war blaß vor Erregung. »Wenn sie keinen Befehl bekommt, muß sie bleiben! Wissen Sie, was das bedeutet? Sie muß sich von den Russen überrollen lassen! Man gibt sie auf, man opfert sie, man vergißt sie einfach. Was ist denn schon ein Mädchen?«
»Ganz recht.«
»Aber dieses Mädchen ist meine Braut! Wir wollen nach dem Kriege heiraten. Sie soll die Mutter meiner Kinder werden.«
»Sehr sozial, lieber Heinrich.«
»Ich lasse sie nicht hier, wenn der Russe die polnische Grenze überschreitet. Sie muß aus diesem Hexenkessel heraus!«
»Man wird sie rechtzeitig evakuieren.«
»Und wenn nicht?«
Stabsarzt Dr. Seidel sah seinen Unteroffizier mit müden Augen an. »Was wollen Sie von mir, 'raus mit der Sprache.«
»Ich bitte Herrn Stabsarzt, uns zu helfen.«
»Ich?« Dr. Seidel schüttelte den Kopf. »Womit? Soll ich Ihre Elsbeth mit einem Sanka durch Polen und das Reich bis nach Dortmund schaukeln? Wie stellen Sie sich das vor?«
Walter Heinrich beugte sich vor. Seine Stimme war heiser. »Wir haben uns gedacht, Herr Stabsarzt, daß Sie Elsbeth vielleicht als DRK-Schwester in einen Lazarettzug schmuggeln, der ins Reich fährt.«
»Heinrich!« Dr. Seidel sprang auf. »Sie wagen es, von mir als einem deutschen Soldaten zu verlangen, eine Desertion einzuleiten und zu decken?«
»Ich bitte Sie um die Hilfe bei einer Rettung!«
»Sie tun gerade so, als wenn der Krieg schon verloren wäre!«
»Er ist es, Herr Stabsarzt.«
»Sie sind ein Defätist, Unteroffizier!« Dr. Seidel drehte Heinrich den Rücken zu. »Ich hätte jetzt die Pflicht, Sie wegen Wehrkraftzersetzung zu melden! Die Front wird gehalten … wir schlagen den Russen wieder zurück! Wir werden eine Gegenoffensive starten, die ihn zurückwirft bis Moskau! Der
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