Die Rollbahn
wir den Dnjepr bei Schklow überschreiten können.«
Er gab die Karte an Schneider zurück und blickte sich um zu Tamara. »Wie wäre es«, sagte er, »wenn wir unsere Tamara vorschickten?«
»Tamara?« fragte Major Schneider zweifelnd. »Ich hatte immer den Gedanken. Aber manchmal glaube ich, sie ist doch nur eine Russin und würde uns verraten beim ersten Landsmann, den sie trifft.«
»Das hätte sie schon längst tun können. Katzenhaft wie sie ist, hätte sie in den Nächten keiner hindern können und auch keiner gesehen, wenn sie sich weggeschlichen hätte. Aber sie ist geblieben … bei ihrem Liebling Kunze – der Geschmack der Weiber ist oft ein Rätsel! – und ihrem Bewerber Strakuweit. Und sie wird zurückkommen, wenn wir ihr sagen, daß Kunze und Strakuweit sofort erschossen werden, falls sie zu ihren Landsleuten überläuft.«
Major Schneider sah den Stabsarzt verblüfft an. »Doktor«, sagte er leise. »Ich entdecke bei Ihnen neue Seiten. Sie sind nicht nur ein Arzt, Sie haben auch das Zeug zum Intriganten.«
Stabsarzt Dr. Wensky lachte leise. »Vielleicht kommt es daher«, sagte er leichthin. »Ich habe als Studiker auf der Studentenbühne immer den Franz Moor gespielt …«
Eine halbe Stunde später wurde Tamara durch den Wald in Richtung auf den Dnjepr losgeschickt. Major Schneider hatte sie ermahnt, und Leutnant Vogel tat ein übriges, indem er – als Spezialist für perverse Effekte – Kunze und Strakuweit fesseln ließ und an einen Baum festband. »Er spielt Indianer«, sagte Dr. Wensky trocken zu Faber, der dieses Schauspiel widerlich fand. Aber auf Tamaras primitiven Verstand wirkte es ungeheuer. Sie weinte und schwor bei der heiligen Mutter Gottes, daß sie zurückkommen und berichten werde, was sie am Dnjepr gesehen habe.
Sie warf noch einen langen Blick auf die an den Bäumen klebenden Kunze und Strakuweit, ehe sie durch das Dickicht kroch und zwischen den grünen, hinter ihr zusammenschlagenden Zweigen verschwand.
Vogel band Kunze und Strakuweit wieder los. »Die kommt nicht wieder«, sagte er zu Major Schneider. »Ein Russe hat keine Ehre. Verraten wird sie uns! Und das ist unser Tod!«
»Abwarten.« Schneider setzte sich auf den nassen Waldboden. »Am Gefühl einer Frau sind schon Völker zerbrochen …«
Igor Pjetonnek Graschin war Leutnant der 2. weißrussischen Front und abkommandiert worden, die Partisanen an der Rollbahn militärisch zu organisieren. Ihm zur Seite stand der Unteroffizier Fedja Poltansky, ein kleiner Kalmücke mit krummen Reiterbeinen und einem langen, abwärtshängenden Schnurrbart.
Sie hatten ihre Aufgabe sehr ernst genommen. Als sie vor einigen Wochen als alte Bauern durch die deutschen Linien sickerten und in den einsamen Walddörfern die Partisanen aufgesucht hatten, fanden sie einige wilde Haufen, die wahllos herumzogen, hier und da Brücken oder Geleise sprengten, an der Rollbahn Minen legten, aber sonst zu keinen ernsthaften Unternehmungen die Mittel noch die Lust besaßen.
Das hatte sich geändert, als Igor und Fedja auftauchten. Sie hatten zunächst militärische Disziplin eingeführt, Gehorsam, Bestrafungen und ein für die Bauern und vor allem die Frauen sinnloses Exerzieren mit neuen Waffen, die nachts von einsamen Aufklärern an Fallschirmen abgeworfen wurden.
Innerhalb zwei Monaten hatte Leutnant Graschin so eine Truppe geschaffen, die zwar noch immer wild aussah, die aber ihre Terrorakte wohl durchdacht ausführte und im Rücken der deutschen Truppen spürbare Unordnung schaffte. Vor allem der Nachschub geriet ein wenig durcheinander, da allenthalben an der Rollbahn, auf der Bahnstrecke, auf den Waldstraßen Transporte in die Luft flogen oder deutsche Ersatzkompanien mit jungen Burschen, die kaum ausgebildet waren, aus dem Hinterhalt beschossen und manchmal auch ganz aufgerieben wurden.
Jetzt, nach dem Zusammenbruch der deutschen Mittelfront, waren sie zu Jägern geworden. Sie lauerten in den Dickichten auf zurückgehende, versprengte deutsche Kolonnen, und erbarmungslos schossen sie diese ab, schlichen die Lager an, überfielen sie und mordeten sie mit einem Haß, wie nur ein Asiate ihn besitzen kann.
Fedja Poltansky saß in der Sonne vor einer kleinen Reisighütte und putzte seine Maschinenpistole, als Leutnant Igor Pjetonnek Graschin von einem Postenkontrollgang zurückkam.
»Ein stiller Tag, Genosse Leutnant«, sagte Fedja. Er setzte das Schloß wieder zusammen und wunderte sich ein um das andere Mal, daß dieses wackelige Ding
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