Die Romanow-Prophezeiung
der Jacketttasche und wählte. Nach einem kurzen Wortwechsel beendete er das Gespräch. »Ich kenne den Inhaber einer Pension, der mir heute Morgen sagte, das Geschäft laufe derzeit ein bisschen schleppend. Die Pension heißt Azalea Inn. Ich mache Ihnen eine Wegskizze. Es ist nicht weit von hier.«
Das Azalea Inn war ein hübsches Gebäude im Queen-Anne-Stil und lag am Rand des Städtchens. Auf dem Grundstück, das mit einem weißen Lattenzaun eingefasst war, wuchsen mächtige Buchen. Die Vorderveranda bot einer Reihe grüner Schaukelstühle Platz. Drinnen wies das Haus uralte Balkendecken, offene Kamine und altmodische Quiltdeckchen auf.
Lord buchte ein Doppelzimmer, was ihm einen sonderbaren Blick der ältlichen Frau an der Rezeption eintrug. Er rief sich den Mann im Hotel in Starodug in Erinnerung, der ihm, dem Ausländer, ein Zimmer hatte verweigern wollen. Doch die Haltung dieser Dame hier war nochmals anders. Ein Schwarzer mit einer weißen Frau. Kaum zu glauben, dass die Hautfarbe noch immer eine so große Rolle spielte, aber es war offensichtlich so.
»Was war denn eben das Problem?«, fragte Akilina, nachdem sie das Zimmer bezogen hatten.
Das Zimmer im zweiten Geschoss war hell und luftig, mit frischen Blumen und einer flauschigen Steppdecke auf dem altmodischen Bett. Im Bad stand eine Badewanne mit Füßen, und das Fenster war mit weißen Spitzenvorhängen verhängt.
»Hier sind immer noch einige Leute der Meinung, dass die Rassen sich nicht vermischen sollten.«
Er warf ihre Reisetaschen aufs Bett, dieselben beiden Taschen, die Semjon Paschkow ihnen damals vor einer Ewigkeit, wie es ihm schien, mitgegeben hatte. Die Goldbarren hatte er in einem Schließfach im Flughafen von Sacramento zurückgelassen. Nun warteten schon drei Stücke Zarengold darauf, von ihm wieder eingesammelt zu werden.
»Gesetze können Menschen dazu bringen, sich anders zu verhalten«, bemerkte Lord, »aber sie verändern nicht ihre Einstellung. Du solltest das nicht übel nehmen.«
Sie zuckte die Schultern. »In Russland gibt es auch Vorurteile. Ausländer, Dunkelhäutige, Mongolen. Alle werden schlecht behandelt.«
»Man wird sich dort sicherlich an einen Zaren gewöhnen müssen, der in Amerika zur Welt kam und aufgewachsen ist. Ich denke, eine solche Möglichkeit hat niemand jemals in Erwägung gezogen.« Er setzte sich auf die Bettkante. »Es ist erstaunlich, dass wir es so weit geschafft haben.«
»Der Anwalt wirkte ehrlich. Er wusste wirklich nicht, wovon wir redeten.«
Lord stimmte ihr zu. »Ich behielt ihn genau im Auge, als er die Glocke studierte und du den Text auf Russisch zitiert hast.«
»Er meinte, es gäbe noch andere Thorns?«
Lord stand auf, ging zum Telefon und nahm das darunter liegende Telefonbuch zur Hand. Er schlug es bei T auf und fand sechs Thorns und zwei Thornes. »Morgen schauen wir uns diese Leute näher an. Notfalls besuchen wir jeden Einzelnen von ihnen. Vielleicht können wir Thorn ja beim Wort nehmen und ihn um seine Mithilfe bitten. Es könnte einfacher sein, wenn wir von einem Einheimischen vorgestellt werden.« Er sah Akilina an. »Bis dahin sollten wir erst einmal etwas essen und dann schlafen.«
Sie aßen in einem ruhigen Restaurant um die Ecke, das witzigerweise unmittelbar neben einem Kürbisfeld lag. Lord machte Akilina mit gebratenen Hähnchen, Kartoffelbrei, gekochten Maiskolben und Eistee bekannt. Erst wunderte er sich, wie fremd ihr das war, aber andererseits hatte er ja vor seinen Reisen nach Russland Buchweizenpfannkuchen, Rote-Bete-Suppe oder sibirische Fleischklöße ebenso wenig gekannt.
Die Abendluft war mild und klar. Keine einzige Wolke verhängte den Himmel, und über ihnen war die Milchstraße zu sehen.
Genesis war eindeutig ein Ort, an dem nur tagsüber Leben herrschte – abgesehen von einigen Restaurants war jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, kein einziges Geschäft mehr offen. Nach einem kurzen Spaziergang kehrten sie in ihre Pension zurück und betraten die Eingangshalle.
Auf einer kleinen Couch neben der Treppe saß Michael Thorn.
Der Anwalt trug jetzt lässige Kleidung, einen hellbraunen Pullover und blaue Hosen. Als Lord die Eingangstür schloss, stand er auf und fragte ruhig: »Haben Sie dieses Glöckchen noch?«
Lord griff in die Hosentasche und reichte es Thorn. Der befestigte einen goldenen Klöppel im Inneren des Glöckchens und versuchte, es mit einem leichten Schlenkern des Handgelenks zu läuten. Doch wo man einen Glockenton erwartet
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