Die Romanow-Prophezeiung
dafür.«
»Und aus welchem Grund?«, wollte einer der Männer wissen.
»Aus mehreren Gründen, denke ich. Zum einen fürchten viele ein Wiedererstarken des Kommunismus. Schon vor Jahren hätte sich Sjuganow als Jelzin-Herausforderer beinahe durchgesetzt. Die Mehrheit der Russen möchte aber keine Rückkehr zum Totalitarismus, wie sämtliche Meinungsumfragen belegen. Das würde allerdings einen Populisten nicht davon abhalten, diese schwierigen Zeiten auszunutzen und mit falschen Versprechungen ins Amt zu kommen.
Der zweite Grund geht tiefer. Die Menschen glauben einfach nicht mehr daran, dass die gegenwärtige Regierungsform geeignet ist, die Probleme des Landes zu lösen. Und ich fürchte, offen gesagt, dass sie damit Recht haben. Denken Sie doch nur an die Kriminalität. Ich bin mir sicher, dass jeder von Ihnen irgendeinem Mafioso Schutzgeld bezahlt. Sie haben gar keine andere Wahl. Im Falle einer Weigerung müssten Sie damit rechnen, in einem Leichensack nach Hause zurückzukehren.«
Wieder dachte Lord an die gestrigen Ereignisse, erwähnte sie aber nicht. Hayes hatte ihm geraten, darüber zu schweigen. Die Leute in diesem Raum waren seiner Ansicht nach ohnehin schon nervös genug – auch ohne sich fragen zu müssen, ob ihre Anwälte nun ebenfalls zum Ziel der Mafija wurden.
»Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass derjenige, der sich nicht auf Kosten anderer bereichert, selber schuld ist. Nicht einmal zwanzig Prozent der Bevölkerung zahlen noch Steuern. Die ganze Infrastruktur steht kurz vor dem Zusammenbruch. Da ist es nur verständlich, wenn die Menschen glauben, dass es nur besser werden kann. Dazu kommt noch eine gewisse Nostalgie um das verlorene Zarentum.«
»Das ist doch Schwachsinn«, meinte einer der Männer. »Was wollen die denn mit so einem verdammten König?«
Lord wusste, wie Amerikaner autokratische Staatssysteme beurteilten. Die Russen dagegen, deren Mentalität durch das Verschmelzen tatarischer und slawischer Einflüsse geprägt war, schienen sich geradezu nach einer autokratischen Herrschaft zu sehnen – und ebendieses Ringen um absolute Macht hatte im Laufe der Jahrhunderte Russlands Entwicklung bestimmt und gefördert.
»Diese nostalgische Sehnsucht ist leicht nachvollziehbar«, erklärte Lord. »Erst in den vergangenen zehn Jahren ist die wahre Geschichte von Nikolaus II. und seiner Familie ans Licht gekommen. Inzwischen hat sich in ganz Russland das Empfinden verbreitet, dass das, was im Juli 1918 geschah, Unrecht war. Die Russen fühlen sich von der sowjetischen Ideologie getäuscht, die den Zaren als Verkörperung des Bösen hinstellte.«
»Na schön, dann gibt’s also wieder einen Zaren …«, begann einer der Zuhörer.
»Nicht ganz«, unterbrach ihn Lord. »Das wurde in der Presse nicht immer völlig korrekt dargestellt. Aus diesem Grund meinte Mr. Hayes auch, dass diese Zusammenkunft sinnvoll sein könnte.« Er merkte, dass er nun ihre volle Aufmerksamkeit hatte. »Das Konzept des Zarismus kommt wieder, aber vorher müssen zwei Fragen beantwortet werden: Wer soll Zar werden, und über welche Machtbefugnisse soll er verfügen.«
»Oder sie«, meinte eine der Frauen.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nur er. So viel ist schon sicher. Ein russisches Gesetz von 1797 besagt, dass die Erbfolge nur über die männliche Linie weitergegeben wird. Wir gehen davon aus, dass dieses Gesetz beibehalten wird.«
»Na schön«, mischte sich ein weiterer Mann ein, »dann würden wir gern die Antwort auf Ihre beiden Fragen hören.«
»Die erste ist leicht zu beantworten. Zar wird derjenige, auf den sich die siebzehn Mitglieder der Kommission einigen. Die Russen lieben Kommissionen. In der Sowjetvergangenheit waren sie meist nicht viel mehr als willenlose Werkzeuge des Zentralkomitees, aber diese hier wird völlig unbeeinflusst von der Regierung arbeiten – was im Augenblick nicht besonders schwer ist, da von einer Regierung kaum mehr die Rede sein kann.
Man wird Kandidaten präsentieren und ihre Ansprüche bewerten. Als aussichtsreichster Kandidat gilt im Augenblick unser Bewerber, Stefan Baklanow. Seine Weltanschauung ist eindeutig westlich geprägt, aber er stammt in direkter Linie von den Romanows ab. Wir arbeiten in Ihrem Auftrag und mit Ihrem Geld dafür, dass sein Anspruch auf den Thron auch von der Kommission anerkannt wird. Taylor macht jede Menge Lobbyarbeit, um dies sicherzustellen. Und ich habe die letzten paar Wochen in den russischen Archiven zugebracht, um ganz
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