Die Romanow-Prophezeiung
galt und in der aufstrebenden russischen Wirtschaft über die erforderlichen Kontakte verfügte. Dies war Lords erstes Zusammentreffen mit der gesamten Gruppe, auch wenn er viele der Anwesenden bereits in Einzelgesprächen kennen gelernt hatte.
Hayes folgte ihm in den Saal und klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Okay, Miles, tun Sie Ihr Bestes.«
Er ging nach vorne. »Guten Tag. Mein Name ist Miles Lord.« Die Gespräche verstummten. »Einige von Ihnen kennen mich ja bereits, und ich freue mich, nun auch die Übrigen kennen zu lernen. Taylor Hayes meinte, dass ich mit diesem Briefing schon einmal einen Teil Ihrer Fragen beantworten könne. Zumal die Dinge sich momentan so schnell entwickeln, dass uns womöglich nicht die Zeit bleibt, in den nächsten Tagen alles so ausführlich zu besprechen, wie Sie …«
»Und ob wir Fragen haben«, rief eine untersetzte blonde Frau mit New-England-Akzent dazwischen. Lord wusste, dass sie für die Osteuropageschäfte von Pepsico verantwortlich war. »Ich will endlich wissen, was hier abläuft. Mein Aufsichtsrat wird immer nervöser.«
Dazu hat er auch allen Grund, dachte Lord, ließ sich aber nichts anmerken. »Wollen Sie mir nicht wenigstens die Chance geben anzufangen?«
»Wir brauchen keine Reden. Was wir brauchen, sind Informationen.«
»Nun, die groben Daten kann ich Ihnen liefern. Die Industrieproduktion verzeichnet gegenwärtig einen Rückgang von vierzig Prozent. Die Inflation liegt bei einhundertfünfzig Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig – sie liegt bei rund zwei Prozent –, aber das eigentliche Problem ist die Unterbeschäftigung …«
»Das wissen wir alles längst«, erklärte ein weiterer Vorstandschef, der Lord nicht bekannt war. »Chemiker backen Brot, Ingenieure stehen an Fließbändern. Die Moskauer Zeitungen sind doch voll davon.«
»Aber nichts ist so schlecht, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte«, erwiderte Lord. »Es gibt da einen beliebten Witz. Jelzin und die Regierungen nach ihm haben in zwei Jahrzehnten geschafft, was die Kommunisten in 75 Jahren nicht zustande brachten: dass die Menschen sich nach dem Kommunismus sehnen.« Ein paar Lacher. »Die Kommunisten verfügen noch immer über eine relativ starke Basis. An jedem Jahrestag der Oktoberrevolution im November gehen Menschen massenweise auf die Straße. Sie predigen pure Nostalgie. Keine Verbrechen, kaum Armut, soziale Sicherheit – eine Botschaft, die bei einem verzweifelten Volk gut ankommt.« Er hielt einen Augenblick inne. »Aber das gefährlichste aller Szenarien wäre, wenn ein fanatischer faschistischer Führer an die Macht käme, weder Kommunist noch Demokrat, sondern Demagoge. Dies gilt vor allem im Hinblick auf das beträchtliche nukleare Potenzial Russlands.«
Kopfnicken bei einigen. Zumindest hörten sie zu.
»Und wie konnte es dazu kommen?«, fragte ein drahtiger kleiner Mann , der, wenn Lord sich nicht irrte, aus der Computerbranche kam. »Ich habe nie verstanden, wie es so weit kommen konnte.«
Lord trat ein paar Schritte zurück. »Die Russen waren schon immer sehr nationalbewusst, aber der russische Nationalcharakter hat sein Fundament nicht im Individualismus oder der Marktwirtschaft, sondern verfügt über eine spirituelle Dimension, die man nicht unterschätzen darf.«
»Einfacher wäre es, wenn wir das ganze Land verwestlichen könnten«, meinte einer der Männer.
Die Vorstellung, Russland zu »verwestlichen«, ließ Lord immer die Haare zu Berge stehen. Das russische Volk würde sich nie vollständig von der einen oder anderen Seite absorbieren lassen, weder vom Westen noch vom Osten. Stattdessen war und blieb es eine einzigartige Mischung. Seiner Ansicht nach hatte ein Investor langfristig nur eine Chance, wenn er dem Stolz der Russen ausreichend Rechnung trug. Lord erklärte seinen Standpunkt und schlug dann den Bogen zum eigentlichen Thema.
»Die russische Regierung gelangte schließlich zu der Einsicht, dass etwas vonnöten ist, was über der Tagespolitik steht. Etwas, mit dem das Volk sich identifizieren kann. Vielleicht sogar ein anderes Regierungssystem. Als die Duma dann vor achtzehn Monaten eine Volksbefragung zu den nationalen Wertevorstellungen durchführen ließ, überraschte das Ergebnis so manchen: Gott, der Zar und das Vaterland. Mit anderen Worten: Die Mehrheit wollte zurück zur Monarchie. Radikal, finden Sie? Sicherlich. Aber als die Frage dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurde, waren die Menschen mit klarer Mehrheit
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