Die Romanow-Prophezeiung
kein Wunder, wenn es eine gewisse Verwirrung bezüglich der Thronfolge gibt. Die Kommission wird dieses Rätsel entwirren und einen Zaren präsentieren müssen, den die Bevölkerung akzeptieren kann.«
»Ich habe bei der ganzen Sache so meine Bedenken. Baklanow bezeichnet einige der Wladimirowitschi als Verräter. Es heißt, er wolle Beweise für seine Anschuldigungen auf den Tisch legen, falls einer ihrer Namen auf der Kandidatenliste erscheint.«
»Und Sie machen sich deswegen Sorgen um ihn?«
»Ja.«
»Sind Sie auf etwas gestoßen, das seine Ansprüche gefährden könnte?«
Lord schüttelte den Kopf. »Nichts, was mit ihm zu tun hätte. Er gehört zu den Michailowitschi, die Nikolaus II. verwandtschaftlich am nächsten stehen. Seine Großmutter war Xenia, Nikolaus’ Schwester. Sie floh nach der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 nach Dänemark. Ihre sieben Kinder wuchsen im Westen auf und zerstreuten sich in der Folgezeit in alle Winde. Baklanows Eltern lebten in Deutschland und Frankreich. Er besuchte die besten Schulen, stand aber vor dem vorzeitigen Ableben seiner Cousins in der Thronfolge nicht an erster Stelle. Nun aber ist er der älteste männliche Thronanwärter, und bis jetzt habe ich nichts gefunden, was gegen ihn spräche.«
Außer, dachte er, dass womöglich ein direkter Nachfahre von Nikolaus und Alexandra existiert – aber um das zu glauben, bedurfte es schon einer Menge Phantasie.
Zumindest war er bis gestern dieser Meinung gewesen.
Paschkow hielt sein Wodkaglas dicht an sein vom Alter gezeichnetes Gesicht. »Ich kenne Baklanow. Sein einziges Problem könnte seine Frau werden. Sie ist zwar orthodox und hat sogar eine Spur königlichen Blutes in den Adern, stammt aber natürlich nicht von einem Herrscherhaus ab. Wie sollte sie auch? Wo doch nur so wenige übrig sind. Sicherlich werden die Wladimirowitschi das als Hindernis anführen, aber aus meiner Sicht wird der Kommission gar nichts anderes übrig bleiben, als diese Anforderung einfach zu ignorieren. Ich fürchte, die kann sowieso keiner erfüllen. Ebenso wenig, wie einer der überlebenden Verwandten sich auf eine Erlaubnis des Zaren zur Heirat berufen kann, da es seit Jahrzehnten keinen Zaren mehr gibt.«
Zu diesem Schluss war Lord auch schon gelangt.
»Ich glaube nicht, dass das russische Volk in dieser Ehe ein Problem sieht«, fuhr Paschkow fort. »Weit mehr wird es auf das künftige Handeln des neuen Zaren und seiner Zarin ankommen. Diese letzten Nachfahren der Romanows können ziemlich engstirnig sein und sie führen zu viele Machtkämpfe gegeneinander. Das ist nicht zu tolerieren, schon gar nicht, wenn es in aller Öffentlichkeit vor der Kommission geschieht.«
Lord musste wieder an Lenins Notiz und Alexandras Schreiben denken und beschloss herauszufinden, was Paschkow darüber wusste. »Haben Sie noch einmal über das nachgedacht, was ich Ihnen gestern im Archiv gezeigt habe?«
Der ältere Mann grinste. »Ich verstehe, dass Sie sich Sorgen machen. Was wäre, wenn ein direkter Nachkomme von Nikolaus II. noch am Leben wäre? Dann hätte von allen Romanows nur dieser einen Anspruch auf den Thron. Aber Sie glauben doch wohl nicht, Mr. Lord, dass jemand das Massaker von Jekaterinburg überlebt haben könnte?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber nein, wenn die Berichte über das Massaker zutreffend sind, hat keiner überlebt. Trotzdem scheint Lenin diese Berichte angezweifelt zu haben. Ich meine, Jurowski hätte Moskau ja schlecht berichten können, dass ihm zwei Leichen fehlten.«
»Stimmt. Obwohl mittlerweile klar ist, dass genau dies der Fall war. Die Gebeine von Alexej und Anastasia sind verschwunden.«
Lord erinnerte sich, dass 1979 ein pensionierter Geologe und ein russischer Filmemacher herausbekommen hatten, wo Jurowski und seine Henkersknechte die ermordete Zarenfamilie vergraben hatten. Sie hatten sich heimlich an die Stelle geschlichen und die sterblichen Überreste ausgegraben. Erst 1991 jedoch waren die Knochen exhumiert und mit Hilfe der DNA-Analyse sicher identifiziert worden. Paschkow hatte Recht. Nur neun Skelette kamen ans Tageslicht. Und trotz jahrelanger gründlicher Suche in der Umgebung des Grabes waren die Überreste der beiden jüngsten Kinder von Nikolaus II. nie gefunden worden.
»Sie könnten einfach an einer anderen Stelle begraben sein«, meinte Paschkow.
»Aber was hat Lenin mit seiner Bemerkung gemeint, dass die Berichte über die Ereignisse in Jekaterinburg nicht ganz zutreffend
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