Die Rose des Propheten 1 - Das Buch der Götter
sich zurück. Eine Stunde lang starrte er auf das Pergament auf der Suche nach den allerkleinsten Fehlern, doch er fand nichts. Sorgfältig rollte er das Pergament zusammen und schob es in eine aus Elfenbein geschnitzte Zauberspruch-Schatulle, die ihm seine Eltern am letzten Heiligen Tag geschenkt hatten. Er schloß den silbernen Deckel und versiegelte ihn mit Bienenwachs. Dann trug er den Zauberspruch mit äußerster Vorsicht zum Schreibpult seines Meisters, dem Erzmagus, und legte die Schatulle vor ihm nieder. Der Erzmagus war tief in die Lektüre eines verstaubten Schriftstücks versunken, das buchstäblich nach Geheimwissen roch. Er sagte kein Wort, nahm aber die Schatulle mit Bedacht entgegen.
Zwei Wochen später, die ihm wie die längste Zeit seines Lebens vorkamen, rief der Erzmagus den jungen Mann in sein Studierzimmer. Dort waren noch einige andere Hexer versammelt – Mathews Lehrer. Sie betrachteten ihn feierlich, die langen, weißen Bärte strichen über ihre Brust. Der Erzmagus gab Mathew die Zauberspruch-Schatulle zurück. Sie war leer. Mathew wagte kaum zu atmen. Der Erzmagus lächelte, die anderen Hexenmeister ebenfalls. Der Zauberspruch hatte also bestens gewirkt und Mathew damit bestanden – endlich war er ein Zauberlehrling. Sein Erfolg wurde mit der Seereise in das Land Sardish Jardan belohnt.
Vor dieser Reise machte er zu Hause Ferien. Mit seinen Eltern verbrachte er die meiste Zeit in der Bibliothek des Schlosses, wo sie bei Kerzenlicht und in aller Stille Forschungen betrieben und meditierten. Die Wesmanen lebten in einem Land, das viele Leute in Tirish Aranth als unwirtlich und rauh ansahen. Einer weitverbreiteten Legende zufolge war dieses Bergland angeblich so hügelig, daß man sich nirgends lang ausgestreckt zum Schlafen niederlassen konnte. In den dichten Wäldern wuchsen hohe Kiefern und Espen. Der Boden war so steinig, daß man nur das Allernötigste anbauen konnte. Dennoch gab es keinen Mangel. Die Wesmanen waren ein Volk der Wildnis und hatten schon vor Urzeiten gelernt, von diesem Land zu leben. In den Wäldern jagten sie Rotwild und Elche, in den Tälern fingen sie Hasen und Eichhörnchen und aus den sprudelnden Flüssen angelten sie buntschillernde Forellen.
Als begeisterte Forscher und Naturfreunde waren die Wesmanen ein sehr zurückgezogenes Volk. Nur eingeweihte oder äußerst mutige Freunde wagten es, die trügerischen Pfade zu ihren hoch oben gelegenen Steinhäusern zu erklimmen. Hier lebten die Wesmanen inmitten ihrer Bücher ein ruhiges Leben und erzogen ihre Kinder in der leicht zerstreuten Art, die Wissenschaftlern eigen ist, denen die Suche nach Erkenntnis über alles geht.
Männer wie Frauen besaßen eine schöne, schlanke Gestalt und hatten helle Stimmen, so daß man die Geschlechter kaum unterscheiden konnte. Den Wesmanen war diese Unterscheidung auch gar nicht wichtig. In allen Bereichen – von der Schule bis zur Jagd – taten Frauen und Männer dasselbe. Die Wesmanen heirateten so gut wie nie außerhalb ihres eigenen Volkes, zumal sie die Menschen in Tirish Aranth für dumme Bauerntölpel hielten.
Mathews Sippe gehörte zu den alteingesessenen Familien. Im Laufe der Zeit hatten sie ein riesiges Vermögen angehäuft, so daß sie sich ganz auf ihre Forschungen konzentrieren konnten, um anderes brauchten sie sich nicht zu kümmern. Seine Mutter war Philosophin. Ihre Abhandlungen über die Lehren des Promenthas waren sowohl in religiösen wie in weltlichen Kreisen hoch angesehen. Verschiedene Universitäten hatten ihr eine Professur angeboten, was sie jedoch immer abgelehnt hatte. Sie war durch nichts dazu zu bewegen, diese Hügel, die Stätte ihrer Geburt, zu verlassen. Ebensowenig hätte sie jemals ihren Gatten verlassen, dem sie sehr zugetan war. Mathews Vater war ein Alchimist – ein verträumter Mann, der dann am glücklichsten war, wenn er inmitten von Glaskolben und Bunsenbrennern hantieren konnte. Dabei verbreitete er entsetzlichen Gestank, und gelegentlich verursachte er Explosionen, die das ganze Schloß erschütterten. Als früheste Erinnerung an seinen Vater stand Mathew das Bild vor Augen, wie dieser in einer wogenden Rauchwolke aus dem Kellerlabor hochstieg, mit versengten Augenbrauen und einem rußgeschwärzten, aber begeisterten Gesicht.
Mathews Eltern schickten ihren Sohn in die beste Hexerschule, die jungen Männern offenstand. Mit sechs Jahren verließ er sein Zuhause und kehrte nur einmal im Jahr am Heiligen Tag zurück. Er fand seine Eltern
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