Die Rose des Propheten 1 - Das Buch der Götter
saßen in der geräumigen Jurte des Scheichs, mitten im Winterlager des Hrana-Stamms. Die Hrana waren Schafzüchter und lebten zwischen den Roten Bergen, die am westlichen Rand der Pagrah-Wüste aufragten. Im Sommer ließ man die Schafe in den höheren Regionen weiden, während der Winter die Nomaden hinunter in die Wüste trieb, wo ihre Herden von den kargen Pflanzen lebten, bis sich der Schnee zurückzog und man im Frühling wieder in die Berge ziehen konnte.
Es war ein hartes Dasein, denn jeder Tag stellte einen ununterbrochenen Kampf ums Überleben dar. Die Schafe bildeten die Lebensgrundlage des Stamms: Wolle gab ihnen Kleidung und Schutz, Milch und Fleisch dienten als Nahrung. Wenn Hazrat Akhran dem Stamme der Hrana wohlgesonnen war, wuchsen die Herden, und man konnte Schafe und Lämmer in den Suks – den Basaren – der nahen Stadt Kich verkaufen, um Geld für Luxusgüter wie Seide, Parfüm, Tee und Tabak zu erhalten. Doch wenn Hazrat Akhran sein Volk vergaß, dann schrumpften die Herden, und niemand dachte mehr an Parfüm, sondern nur noch daran, wie man den nächsten Winter in der Wüste überleben konnte.
Die letzten Jahre hatten glücklicherweise den Wohlstand des Stamms vermehrt – allerdings nicht dank Akhrans Einfluß, dachte Fedj ärgerlich, auch wenn er nie gewagt hätte, diese Gotteslästerung laut auszusprechen. Was konnte der Dschinn dem Scheich antworten, der nichts weiter erbat, als die Ursache seines Elends zu verstehen? Schließlich konnte Fedj schwerlich einem Sterblichen, der zu den Göttern aufsah, erklären, daß diese Götter miteinander im Streit lagen.
Und er konnte sich auch nicht vorstellen, wie die verrückten Pläne seines Ewigwährenden Meisters dabei von Nutzen sein konnten. Vor seinem sterblichen Gebieter kniend sah sich der Dschinn hilflos in der Jurte um und suchte in den Mustern der vielfarbigen Teppiche, die die Filzwände bedeckten, nach einer Eingebung.
Fedj wußte aus Erfahrung, daß Jaafar sich das Unglück zu Herzen nehmen würde. Sein Meister nahm alles so persönlich! Wenn ein Lamm tot zur Welt kam oder ein Kind von einer Tarantel gestochen wurde, so machte sich der Scheich selbst dafür verantwortlich und lief tagelang schwermütig herum. Und nun dieser Schicksalsschlag. Fedj stieß einen Seufzer aus. Es konnte durchaus sein, daß sich Jaafar nie wieder davon erholte.
»Verflucht! Und nochmals verflucht!«
Verzweifelt wiegte sich der Scheich auf der Holzbank zwischen all seinen Kissen vor und zurück. Wie sehr sich seiner Meinung nach das Schicksal gegen ihn verschworen hatte, konnte man leicht an seiner äußeren Erscheinung ablesen. Obwohl er erst Ende Vierzig war, sah Jaafar viel älter aus: Das Haar war fast völlig ergraut. In seine tiefbraune Haut hatten sich die Spuren der in den Bergen verbrachten Jahre eingegraben. Er war klein und dünn, und seine dürren, sehnigen Gliedmaßen erinnerten an die Füße eines Kranichs. Das lange fließende Schäfergewand unterstrich noch seinen kurzen Wuchs. Die hängenden Mundwinkel setzten ihren Kurs mit zwei grauen Bartsträhnen fort, die den ständig mürrischen Gesichtsausdruck nicht etwa grimmig, sondern traurig ausfallen ließen. Die schwarzen Augen wurden beinahe durch den Schatten seines Haiks verdeckt – dem faltenreichen weißen Tuch, das von einem um den Kopf gebundenen Agal, einer goldenen Kordel, gehalten wurde. Die Augen waren groß, klar und am Rand immer leicht gerötet, was den Eindruck erweckte, als müßte er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Die Augen verloren ihren niedergeschlagenen Ausdruck nur dann, wenn der Name seines Todfeinds – Majiid al Fakhar, der Scheich der Akar – erwähnt wurde.
Gerade noch, hatten die traurigen Augen vor Feuer gesprüht, doch das Feuer war durch Jaafars Jammern über sein Schicksal gelöscht worden.
Fedj seufzte erneut. Was er in der Jurte sah, half ihm auch nicht weiter. Um Rat flehend schaute er durch das Loch im Zeltdach gen Himmel. So ein Unsinn, von dort Hilfe zu erwarten, sagte er sich, als er dem Rauch nachsah, der spiralförmig von der Kohlenpfanne aufstieg. Die Glut der Holzkohle behagte dem Dschinn durchaus, konnten doch die Wüstennächte sehr kalt werden, zumal er schon so lange unter den Sterblichen lebte, daß er die Gewohnheiten angenommen hatte, körperliche Empfindungen zu verspüren.
Die runde Jurte besaß eine Höhe von sechs Fuß und einen Durchmesser von sechsundzwanzig. Das Zeltgerüst, das für die Dauer einer Saison errichtet
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