Die Rosen von Montevideo
als Laster, nicht als Tugend, wenn eine Frau einen eigenen Willen hatte.
Auch Frau Strauss – die ehemalige Gouvernante von Tabitha – lag ihr damit ständig in den Ohren. In ihrem Alter brauchte sie zwar keine Erzieherin mehr, aber da es Gouvernanten schwer hatten, eine gute Anstellung zu finden, lebte sie gnadenhalber weiterhin im Haus der Gothmanns. Meist zog sie sich zwar in ihr Zimmer zurück und war damit beschäftigt, Sinnsprüche zu sticken, aber wann immer sie mit Carlota zusammentraf, begann sie, einen Katalog an Regeln herunterzubeten, den sie offenbar über Jahre auch Tabitha eingebleut hatte:
»Ein wohlerzogenes Mädchen zeigt seine Gefühle nicht. Eine Dame verlässt nie ohne Hut, Handschuhe und weibliche Begleitung das Haus. Präzision ist eine Eigenschaft, der Männer sich rühmen dürften, die das schwache Geschlecht aber so gar nicht kleidet.«
All das trug sie in einem hohen Singsang hervor, der Carlota an das Fiepen einer Maus erinnerte.
Am schlimmsten war es gewesen, als Frau Strauss sie eines Tages dabei erwischt hatte, wie sie die Frankfurter Zeitung las. Sie hatte sie ihr sofort weggenommen und erklärt: »Nur Männer lesen Zeitungen – und teilen der Frau später das Nötigste mit. Sie muss nicht wissen, was auf der Welt passiert. Sollte sie doch Zerstreuung suchen, gibt es schließlich Romane.«
Carlota hatte sich schwer beherrschen müssen, um keine unflätige Bemerkung zu machen. Dass sie sich ganz selbstverständlich in diese oft bizarre Welt einfügen musste und stets gutes Benehmen von ihr gefordert war, zählte ohne Zweifel zu den Schattenseiten ihres neuen Lebens. Allerdings wurde sie von ihrem Spiegelbild entlohnt. Sie musterte nicht nur begeistert das Kleid, sondern auch ihr Gesicht, dessen Haut mittlerweile fast so blass war wie die von Tabitha.
»Eines Tages wirst du sicher eine hübsche Braut abgeben«, meinte Véronique.
Carlota konnte nicht umhin, erneut zu widersprechen: »Ich bin doch noch etwas zu jung.«
»Ach was, du bist im besten Alter, Ehefrau und Mutter zu werden.«
»Aber ich will noch keine Kinder!«, platzte es aus Carlota heraus.
Die Schneiderin hob nur skeptisch ihre Braue, eine der beiden Assistentinnen blickte sie verwirrt an und errötete. »Das kann man sich doch nicht selbst aussuchen. Die Babys werden schließlich vom Klapperstorch gebracht, der die Mutter ins Bein beißt.«
Carlota unterdrückte ein Prusten. Konnte es wirklich sein, dass dieses Mädchen so dumm war?
Noch vor kurzem hätte sie das für unmöglich gehalten, aber mittlerweile hatte sie die Konversation zweier junger Damen belauscht, in der es allen Ernstes um die Frage ging, ob man schwanger werden konnte, wenn man auf demselben Stuhl Platz nahm, auf dem eben noch ein Mann gesessen hatte. Ein anderes Mal hatte sie erlebt, dass ein Kind seine Puppe entkleidet hatte, woraufhin man ihm diese mit lautem Geschimpfe sofort wegnahm und ein Tuch darüber warf.
»Nun, in jedem Fall werden nur verheiratete Frauen vom Storch gebissen«, meinte Véronique spöttisch.
»Als der Storch meiner Mutter meinen kleinen Bruder brachte, habe ich eine Tüte mit Süßigkeiten bekommen!«, rief die Assistentin schwärmerisch.
Carlota verdrehte die Augen. »Wenn man wirklich nur als Ehefrau vom Storch gebissen wird – warum bekommen dann auch so viele unverheiratete Frauen Kinder?«
Véronique sah sie etwas betreten an, die beiden Assistentinnen liefen rot an, schwiegen jedoch. Wie vorhin fühlte sie einen Blick auf sich ruhen, und als sie sich umdrehte, stand da wieder Else und beobachtete sie auf diese nachdenkliche Weise.
Carlota fühlte sich abermals ertappt und lenkte rasch ab. »Im Haar werde ich Orangenblüten tragen, nicht wahr?«
»Gewiss, und außerdem weiße Seidenstrümpfe und Satinschuhe.«
»Ich habe eine kleine Erfrischung gebracht«, sagte Else.
Carlota entschied, nicht zu überlegen, was deren nachdenklicher Blick zu bedeuten hatte. »Du kannst das Tablett dort abstellen«, sagte sie schnell und widmete sich wieder dem eigenen Spiegelbild.
Carlota hatte sich sehr auf den Abend gefreut und war ungemein stolz, mit dem neuen, überaus eleganten Kleid die breite Treppe herunterzuschreiten. Viele fremde Menschen zu begrüßen, flößte ihr zwar Respekt ein, aber sie hatte alsbald herausgefunden, dass es genügte, neben ihren Großeltern zu stehen, liebreizend zu lächeln, ja und nein zu sagen. Oder: »Wie schön, dass Sie hier sind«, und: »Ich wünsche Ihnen einen
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