Die Rosen von Montevideo
ihrem Geheimnis gefährlich werden konnten: Sie musste sich an Orten zurechtfinden, wo sie noch nie gewesen war, und wurde nach Dingen befragt, von denen sie keine Ahnung hatte – ob es nun um Bekannte aus Frankfurt ging, treue Dienstboten oder die neuesten Skandale. Doch während der wochenlangen Schifffahrt hatte sie jede einzelne Stunde genutzt, um das Verhalten von der vornehmen Herrschaft erst zu beobachten und später meisterhaft zu kopieren, so dass man ihr die ärmliche Herkunft nicht ansah. Falls es doch einmal kritisch wurde, hatte sie sich darauf verlegt, ihr Gesicht zu verziehen, über Kopfschmerzen zu klagen und sich zurückzuziehen.
Heute Abend natürlich wollte sie sich nicht in ihrem Zimmer verstecken. Ein großer Empfang samt Ball war anlässlich eines Jubiläums von Alberts Bank geplant, auf den sich Carlota schon seit Tagen freute. Und dass nun alle mit den Vorbereitungen zu tun hatten, erlaubte ihr überdies, die Einrichtung zu bewundern. Sie strich über die Möbel aus Ebenholz mit Intarsien aus Elfenbein, lauschte ihren Schritten auf dem Marmorfußboden, drehte sich vor dem Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen.
Im Salon stand ein Klavier, und Carlota, die immer gerne gesungen hatte, war versucht, darauf zu spielen. Sie hielt sich jedoch zurück, denn es wäre augenscheinlich geworden, dass sie es nicht konnte – ganz anders als Tabitha, die offenbar Unterricht genommen hatte, was die Notenbücher neben dem Instrument bewiesen. Also begnügte sie sich damit, die Samtdraperien, Kristalllüster und Lilienbouquets zu betrachten, die Schnupftabakdosen, vergoldeten Uhren und silbernen Kandelaber.
Als sie das erste Mal das Haus betreten hatte, hatte sie kaum zu atmen gewagt vor lauter Angst, versehentlich etwas umzustoßen, und selbst jetzt, da sie seit Wochen hier lebte, kamen ihr die Räume überladen vor. Nicht dass sie sich nach ihrem schäbigen Haus sehnte. Das war ihr, aus anderen Gründen, auch oft zu eng geworden. Aber wenn sie durch das Gothmannsche Anwesen ging, kam ihr jede abrupte Bewegung unangemessen vor, und beim kleinsten Wimpernzucken fühlte sie sich ertappt. Kein Wunder – schienen sie doch die vielen Porträts, die die Wände schmückten, Werke von Murillo und van Dijck, Frans Hals oder den Brüdern van Eyck, sie ebenso zu beobachten wie die gerade sehr beliebten Büsten römischer Kaiser neben dem Kamin. Hoffentlich fragte nie jemand, wer welcher Kaiser wäre – auch davon hatte sie nicht die geringste Ahnung.
Sie ging weiter, legte den Kopf zurück, um das Deckengemälde zu mustern, strich über die Ledertapeten, kostbares Porzellan, einen Billardtisch, schließlich über die italienischen Renaissanceschränke aus Ebenholz mit Intarsien aus Onyx und Halbedelsteinen. Als sie das Holz unter ihren Fingern spürte, überkam sie so große Ehrfurcht, als wäre das Mobiliar ein lebendiges Wesen, das man zu huldigen hatte.
»Wie schön!«, flüsterte sie.
Plötzlich fühlte sie Augen auf sich ruhen, und als sie herumfuhr, erkannte sie, dass nicht länger nur Steinstatuen oder Gesichter von Gemälden auf sie starrten, sondern Else, das Hausmädchen. Carlota hatte herausgefunden, dass sie schon seit Ewigkeiten im Haus der Gothmanns arbeitete und als Kind oft mit Tabitha gespielt hatte. Wie vertraulich das Verhältnis mittlerweile war, konnte sie nicht einschätzen – schließlich zählte Else trotz allem zu den Dienstboten. In jedem Fall war ihr Blick oft sehr nachdenklich auf sie gerichtet.
»Ja?«, fragte Carlota mit gepresster Stimme.
Else schien kurz zu zögern, ehe sie erklärte: »Ich soll Ihnen ausrichten, dass die Schneiderin da ist und Sie zur Anprobe kommen können.«
Carlota liebte schöne Kleidung, obwohl sie eingestehen musste, dass die meisten Kleider sehr unbequem waren und sie sich besonders dann, wenn das Mieder zu eng saß, nach einem der weiten Kittel sehnte, die sie in Montevideo getragen hatte. Heute Abend jedoch wollte sie alles in Kauf nehmen, um das schönste Kleid zu tragen, das sie je besessen hatte. Seit Wochen wurde daran genäht.
»Ich komme schon.«
Else ließ es sich nicht nehmen, sie nach oben zu bringen. Die Schneiderin, die bereits in ihrem Boudoir wartete, kleidete auch Rosa ein. Es war ein besonderer Luxus der wohlhabenden Leute, trotz Erfindung der Nähmaschine von Hand nähen zu lassen. Und die Gebote der Sparsamkeit wurden ebenso übergangen, wenn es galt, bei jedem Anlass eine neue Garderobe zu tragen, obwohl die Schränke ohnehin
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