Die Rosen von Montevideo
schönen Abend.«
Doch als sie den Ballsaal betrat – die Flügeltüren waren zu diesem Zweck weit geöffnet worden und die beiden Salons dadurch verbunden –, erkannte sie, dass sie sich gegen eine Gefahr nicht gewappnet hatte. Es wurde getanzt – der Walzer ebenso wie die Quadrille und eine Polonaise –, und sie hatte von keinem dieser Tänze eine Ahnung. Tabitha konnte wahrscheinlich voller Anmut tanzen, sie hingegen würde nur über die eigenen Füße stolpern, falls sie es versuchte.
Panik befiel sie, und am liebsten hätte sie einmal mehr Kopfschmerzen vorgetäuscht, um sich zurückzuziehen. Allerdings hätte sie sich dann um ein lang ersehntes Vergnügen gebracht, und so redete sie sich zwar trotzdem auf ihre Kopfschmerzen heraus, die es ihr nicht erlaubten, sich schwungvoll im Kreis zu drehen, erklärte ihren Großeltern aber, dass sie sich gut genug fühlte, dennoch mitzufeiern.
Albert und Rosa musterten sie besorgt, schickten sie jedoch nicht aufs Zimmer. Sie wandten sich wieder ihren Gästen zu, während Carlota nicht recht wusste, wie genau sie den Abend verbringen sollte. Die anderen Mädchen ihres Alters – Kitty, Helene und Auguste, die Töchter von befreundeten Bankiers- und Kaufmannsfamilien – waren damit beschäftigt, mögliche Tanzpartner zu beobachten und kichernd darüber zu spekulieren, wer von ihnen die beste Partie sei. Carlota fühlte sich ausgeschlossen und befürchtete zugleich, dass ihr sichtliches Desinteresse auffiel. So schlenderte sie die Tanzfläche auf und ab und gab vor, den anderen Paaren neugierig zuzusehen. Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr, doch nichts war interessant genug, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Von Kaiser Wilhelm I., Gott hab ihn selig, war die Rede, der im März dieses Jahres hochbetagt gestorben war, von Kaiser Friedrich III ., seinem Sohn, der ihm gefolgt, aber mittlerweile ebenso das Zeitliche gesegnet hatte, und schließlich vom neuen Kaiser Wilhelm II ., der hoffentlich etwas länger sein Amt versehen würde. Die Gesichter waren etwas betreten, aber nicht traurig. Am langweiligsten war es, wenn von Geschäften gesprochen wurde oder vom Krieg: Vor allem die Herrschaften in schmucken Uniformen erzählten ausufernd und rotwangig vom Triumph anno 1871 , obwohl die meisten von ihnen damals noch Windeln getragen und bestenfalls die Väter am siegreichen Krieg gegen Frankreich beteiligt gewesen waren.
Manchmal war davon auch während der Teestunden die Rede gewesen, und Carlota hatte anfangs gefürchtet, dass ihr mangelndes Wissen auffallen würde. Doch bald hatte sie herausgefunden, dass bei politischen Debatten von Frauen nur dann und wann ein Nicken und ein ehrfurchtsvolles »Oh!« erwartet wurde.
Sie entspannte sich zunehmend, aber zugleich wuchs die Langeweile. Bis jetzt hatte sie jede Stunde in edler Kleidung und diesem schönen Haus genossen – doch heute wurde sie dem allen wider Erwarten ein wenig überdrüssig, und weder das Meer an Kerzen, das von den Spiegeln reflektiert wurde und den Raum in ein warmes Licht tauchte, noch das Büfett mit den erlesensten Speisen und edelsten Weinen hoben ihre Laune. Hatte sie sich so schnell an den Reichtum gewöhnt, dass er ihr nicht länger als Gnade erschien, der sie sich unbedingt als würdig erweisen wollte?
Sie knabberte an Canapés, die gereicht wurden, aber ihr Mieder war so eng geschnürt, dass es ihr den Appetit raubte, und so ging sie bald wieder auf und ab.
Nicht weit von ihr entdeckte sie die Musiker – insgesamt fünf an der Zahl –, die schwungvoll zum Tanz aufspielten. Sie wusste nicht, wie die Stücke hießen und wer sie komponiert hatte, aber sie mochte die Musik. Unwillkürlich erinnerte sie sich an ihren Vater, der, als sie noch ein Kind gewesen war, manchmal die Harfe gespielt und dazu gesungen hatte. Sie hatte seine Lieder, ebenso leidenschaftlich wie melancholisch vorgetragen, geliebt, aber leider waren die Anlässe, da er zu seinem Instrument griff, immer seltener geworden. Je länger sie den Klängen lauschte, desto größer wurde die Sehnsucht nach ihm und auch ihrer Mutter. Bis jetzt hatte sie alle Anflüge von Heimweh erfolgreich bekämpft, doch jetzt trieb es ihr plötzlich Tränen in die Augen. Zum ersten Mal ging es ihr durch den Kopf, dass Valeria hier ihre Kindheit verbracht hatte, dass sie in diesen Räumen einst selbst getanzt, gelacht, gegessen, sich amüsiert hatte. Für sie musste es ein vertrauter Ort gewesen sein, während sie sich inmitten
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