Die Rosen von Montevideo
all der fremden Menschen verloren fühlte.
»Warum so traurig?«
Die Stimme klang ungemein samtig. Sie zuckte zusammen und blickte hoch. Eben hatten die Musiker ein Stück beendet, und während die anderen in ihren Noten blätterten, hatte einer der fünf sie angesprochen. Er spielte die Violine, war ein unglaublich schöner Mann mit dunklem, geschwungenem Haar, grünlich schimmernden Augen, aristokratischen Zügen und feingliedrigen Händen.
»Ich habe mich nur in Erinnerungen verloren«, sagte Carlota leise.
»Hoffentlich keine allzu wehmütigen.«
Er sprach mit leichtem Akzent, dessen Herkunft sie nicht zu deuten wusste.
»Ach was.« Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Vielleicht hebt es Ihre Laune ein wenig, wenn wir Ihr Lieblingsstück spielen. Was wünschen Sie sich denn?«
Carlota zuckte hilflos die Schultern. Ihr fiel kein einziger Komponist ein.
»Suchen Sie eins für mich aus«, erklärte sie schnell.
»Nun, wenn ich ehrlich bin, ist die Auswahl hier sehr konservativ, und über Mozart kommen wir nicht hinaus. Wenn ich mit Ihnen allein wäre, würde ich Saint-Saëns spielen.«
Er zwinkerte ihr vertraulich zu, und die Vorstellung, mit ihm allein zu sein, ließ Carlota plötzlich Röte ins Gesicht steigen.
»Nun, egal, was Sie spielen – ich werde hier stehen bleiben und lauschen«, sagte sie hastig.
Der Musiker legte seinen Kopf etwas schief. »Ein junges, schönes Mädchen sollte besser tanzen. Bestimmt haben Sie viele Verehrer, die sich darum prügeln.«
Sie musste lachen. »Mir ist aber nicht nach Tanzen zumute. Ich höre Ihnen viel lieber zu. Ich … liebe Musik.«
Sie sah beglückt, dass auch er errötete.
»Nicolas, worauf wartest du?«
Die anderen Musiker wurden allmählich ungeduldig. Der junge Mann nickte ihr bedauernd zu, wandte sich ab und konzentrierte sich wieder aufs Spiel. Seine Hände huschten so geschmeidig über sein Instrument, dass sie unmöglich ihren Blick von ihm lassen konnte.
»Nicolas …«, murmelte sie.
Es klang nach einem französischen Namen, und jetzt ließ sich auch sein Akzent erklären. Bis jetzt hatte sie nicht viel von Frankreich gewusst – nun dachte sie sich, dass es, wenn es so musikalische, feine und elegante Menschen hervorbrachte, ein wunderschönes Land sein musste.
Am liebsten wäre Carlota noch länger in der Nähe der Musiker stehen geblieben, aber in diesem Augenblick kam Albert auf sie zu: »Tabitha, wo steckst du denn? Ich suche dich schon seit geraumer Zeit. Ich will dir das Ehepaar von Wacker vorstellen.«
Nur ungern löste sie ihren Blick von Nicolas, ließ sich von ihrem Großvater wegführen und hielt den Blick gesenkt, damit er die roten Wangen nicht sehen konnte. Als sie ihn wieder hob, unterdrückte sie ein Gähnen. Heinrich von Wacker war ein Mann mit Glupschaugen, Glatzkopf und riesigem Bauch. Seine Frau Gudrun war ein ganzes Stück größer als er, jedoch nur halb so breit, so dass das Paar einen nahezu grotesken Anblick bot. Carlota verging das Lachen, als sie dem Sohn der beiden vorgestellt wurde, der von beiden Eltern das Unvorteilhafteste geerbt hatte. Als sie ihm die Hand reichte – so stilvoll, wie sie es von anderen Damen abgeschaut hatte –, hauchte er keinen Kuss darauf, sondern einen dicken Schmatzer. Wie widerwärtig!
Selbst Albert schien befremdet, sagte jedoch nichts – offenbar war der andere ein Geschäftspartner, auf dessen Wohlwollen er angewiesen war.
»Wenn Sie mir den Tanz gestatten«, bat der junge Mann.
Lieber Himmel!, dachte Carlota. Nicht auszudenken, wenn er so tanzt, wie er küsst – wahrscheinlich hätte ich bald platte Füße.
»Leider ist es mir nicht möglich, zu tanzen«, erwiderte sie schnell. »Ich habe vor kurzem eine böse Kopfverletzung erlitten.«
Albert schien Verständnis für ihren Widerwillen zu haben. »Sie musste das schreckliche Erdbeben in Montevideo miterleben, woher bekanntlich meine Frau stammt«, erklärte er.
Die von Wackers schienen keine Ahnung zu haben, wo Montevideo lag, und Carlota nutzte ihr verlegenes Schweigen, um rasch zu sagen: »Überhaupt … ich merke gerade, dass meine Kopfschmerzen leider wieder schlimmer werden. Es ist besser, wenn ich mich zurückziehe.«
»Aber …«
»Wirklich, Großpapa, ich fühle mich nicht wohl.«
Ehe sichs Albert versah, hatte sie ihm einen Kuss auf die Wange gehaucht und war geflohen. Offenbar hätte sich Tabitha niemals so kurz angebunden verhalten, selbst wenn sie tatsächlich unter schlimmen Schmerzen gelitten
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