Die Rosen von Montevideo
geworden war. Er wusste, Rosa war jung, sie konnten noch mehr Kinder haben, wenngleich es zu diesem Zweck besser gewesen wäre, zu Hause zu schlafen. Doch er war jedes Mal erleichtert, wenn sie schon zu Bett gegangen war, anstatt ihn mit Tränen zu erwarten. Also weckte er sie nie auf und wurde zum Gast im eigenen Haus.
Es gab so viel zu tun, so viel zu entscheiden. Seit dem Niedergang der Revolution vor nunmehr drei Jahren kämpfte er um das Fortbestehen der Bank. Die – von ihm seit langem befürchtete – Krise hatte viele Unternehmen ins Verderben gerissen, und er hatte kurzfristig auch mit dem Niedergang der Bank gerechnet. Statt sich von seinen Zukunftsängsten bezwingen zu lassen, hatte er jedoch viele mutige Entscheidungen getroffen, um das Blatt zu wenden. Er investierte in die Eisenbahn, arbeitete verstärkt mit Aktienbanken zusammen und baute mit Carl-Theodors Hilfe den Kolonialhandel aus. Rosa interessierte sich dafür ebenso wenig wie in den Jahren zuvor. Er musste sich begnügen, dass sie halbwegs glücklich schien, dass er sich dann und wann mit Carl-Theodor austauschen konnte, wenn der gerade nicht auf Reisen oder in Hamburg war, und die stillen Abende im Stadthaus fern der Familie zu genießen, die zwar nicht glücklich machten, aber entspannten.
Nur am Wochenende konnte er nicht in der Stadt bleiben. Diesmal war er am Sonnabend sogar früher als sonst heimgekehrt, hatte jedoch erfahren, dass Rosa das Theater besuchte. Insgeheim war er froh, dass er das Abendessen allein zu sich nehmen konnte – seine Mutter hatte sich wie oft zurückgezogen – und er sich nicht mit ihr unterhalten musste. Am nächsten Morgen war er zeitig wach, um zum Gottesdienst in den Dom zu fahren. Rosa ließ ihm von Else ausrichten, dass sie verhindert wäre – die Mühe, sich eine gute Ausrede einfallen zu lassen, machte sie sich gar nicht erst –, und Albert stellte sich schon darauf ein, allein aufzubrechen, da Adele das Haus seit Monaten nicht verlassen hatte. Doch während er seinen Sonntagsanzug zuknöpfte, klopfte es an der Tür, und seine Mutter stand vor ihm – in bester Kleidung, mit kunstvoll frisiertem Haar und einem merkwürdigen Glanz in den Augen.
So gesund und frisch hatte er sie schon seit langem nicht mehr gesehen.
»Mutter?«, fragte er überrascht.
Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Unterarm. Auch diese Geste befremdete ihn. Adele war nie eine Frau gewesen, die ihre Söhne liebkoste. Früher hatte er das vermisst, jetzt dachte er oft schuldbewusst, dass er selbst Valeria kaum berührte.
»Was ist los, Mutter?«
Der seltsame Glanz in ihren Augen verhieß tiefe Befriedigung, wie ihm nun aufging. Auch durch ihre Stimme klang Triumph, als sie feststellte: »Du hättest sie nicht heiraten sollen.«
Albert hob fragend die Braue. Er wusste, dass Adele Rosa nie wirklich gemocht hatte, aber bis jetzt war sie nie so weit gegangen, das offen zuzugeben.
»Mutter …«, setzte er gequält an.
»Doch!«, bestand sie knapp. Anstatt etwas hinzuzufügen, machte sie nur ein wissendes Gesicht. Erst nach einer Weile befahl sie: »Komm mit! Dann zeige ich es dir!«
Albert unterdrückte ein Seufzen und folgte ihr die Treppe hinunter. Adele war erstaunlich gut zu Fuß, obwohl sie doch seit Wochen im Bett gelegen hatte.
Albert wurde immer verwirrter, umso mehr, als Adele das Haus verließ und in den Garten trat. Frühlingssonne fiel auf sie. Albert hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt; er labte sich an ihren warmen, neckischen Strahlen und sog den süßen Duft der Blumen ein – nicht minder gierig wie Adele –, und kurz sah er sie beide mit den Augen eines Fremden. Zwei Schatten waren sie durch diesen Blick, die für gewöhnlich in finsteren Räumen hockten und die Sehnsucht nach der frischen Luft bezähmten, gleich so, als hätten sie Furcht, im Sonnenlicht zu Asche zu zerfallen, als hätten sie Furcht vor dem prallen Leben, das jene Blütenpracht verhieß, als hätten sie Furcht vor dem Glück, wie es die zwitschernden Vögel verkündeten. Er schirmte seine Augen mit der Hand vor dem grellen Sonnenlicht ab, verdrängte den Gedanken und folgte Adele zur Gartenlaube.
Schon von weitem vernahm er Klänge, so süß wie der Rosenduft. Rosa sang, die Kinder lachten.
Frau Lore hatte hier draußen den Frühstückstisch gedeckt, doch niemand saß dort: Die beiden Mädchen liefen lachend über die Wiese; Rosa drehte sich singend im Kreis. Sie trug nur ein leichtes weißes
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