Die Rosen von Montevideo
hatte.
Kurz beschämte sie der Gedanke daran, dass er in einem so intimen Moment zugegen gewesen war, doch Fabien schien nicht peinlich berührt, sondern erklärte freimütig: »Gottlob, dass ich Sie damals gefunden habe, Frau Gothmann.«
»Nennen Sie mich nicht so. Nennen Sie mich Rosa!«
»Rosa …«, wiederholte er. So wie er den Namen aussprach, klang er wie Musik und schien wie die Blumen zu duften.
Bald wurde ihnen der Garten zu klein, und sie begannen, Ausflüge ins Umland zu unternehmen. Fabien ritt nicht, weil er befürchtete, vom Pferd zu fallen und sich die kostbaren Hände zu brechen, weswegen sie sich in der Kutsche herumfahren ließen oder manche Strecke zu Fuß gingen. Ob sie nun durchs malerische Kronberg schritten und die Werke der dortigen Malerkolonie besichtigten oder an den Gärten und Feldern von Mammolshain vorbei – ein wenig fühlte sich Rosa wie in der ersten Zeit in Frankfurt, als alles neu, verheißungsvoll und schön gewesen war. »Ein wunderbares Fleckchen Erde …«, murmelte sie, als sie einen Waldweg entlanggingen. Das Sonnenlicht, das durchs Dach der hohen Bäume fiel, sprenkelte das Moos, die Farne und die Wurzeln.
»Hast du nicht manchmal Heimweh?«, fragte er.
Sie nickte, obwohl es ihr in diesen Tagen schwerfiel, das Haus der de la Vegas’ in Montevideo heraufzubeschwören. Es schien so unendlich weit weg, und nach dem Tod der Tanten war es gewiss ein einsamer Ort. Ihr Bruder Julio hatte zwar geheiratet, wie sie aus einem seiner Briefe erfahren hatte, und auch er war Vater einer Tochter geworden, die den Namen Isabella trug, aber plötzlich ging ihr auf, dass sie sich dort viel fremder fühlen würde als hier. Dort nämlich würde sie nicht singen.
»Und du?«, fragte sie. »Willst du nicht manchmal nach Paris zurückkehren? Antonie ist oft dort – nach dem Scheitern der Revolution, so sagte sie einmal, hält sie es nicht mehr in den deutschen Landen aus.«
Wie immer, wenn sie ihn auf sein Heimatland ansprach, wurde Fabien sehr einsilbig. Er erzählte ihr nie von Paris, auch nicht, wie und mit wem er dort gelebt hatte.
»Ich bin hier glücklich«, antwortete er knapp, »so glücklich mit dir …«
Einmal mehr war sie sich sicher, dass er in sie verliebt war. Es fühlte sich verboten an … und so gut.
Adele Gothmann hatte sich nie in ihrem Leib wohl gefühlt, aber in den letzten Jahren war ihr Leben zu einer zunehmenden Qual geworden. Die vagen Schmerzen, von denen sie sich nie sicher war, woher sie rührten und ob sie echt oder eingebildet waren, wurden nicht schlimmer – aber es war kein Genuss mehr, sich stundenlang zu überlegen, was Linderung schuf. Sie ließ sich immer noch regelmäßig von Doktor Haubusch untersuchen, doch es machte ihr keine Freude, diverse Behandlungsmöglichkeiten mit ihm zu diskutieren. Die, für die sie sich heute entschieden hatte, war nämlich morgen schon vergessen. Ja, oft konnte sie sich am Nachmittag nicht mehr daran erinnern, woran sie vormittags gelitten hatte.
Sie machte ausgedehnte Badekuren in Schwalbach oder Bad Soden, aber anstatt dort ihr Elend zu zelebrieren wie in den Vorjahren, verlief sie sich auf dem Weg in die Bäder. Doktor Haubusch verschrieb ihr danach einen kräftigenden Trunk – gebraut aus Löwenzahn, Schafgarbe, Brennnessel – und behauptete, das würde nicht nur ihrem Körper guttun, sondern vor allem ihrem Geist. Doch anstatt den Sud regelmäßig zu sich zu nehmen, vergaß sie ihn, fand später irgendwo volle Tassen und starrte verwirrt darauf. Das eigene Leben erschien ihr wie eine zu groß gewordene Kleidung, die nicht mehr passte. Wie im Nebel versunken waren auch viele Erinnerungen. Sie empfand keinen Triumph mehr, dass sie noch lebte, ihre Schwester Gerda hingegen nicht, denn deren Gesicht verblasste zunehmend; sie empfand auch kein Erstaunen, dass sie ihren Mann überlebt hatte, denn sie wusste in manchen Stunden nicht mehr, dass sie überhaupt verheiratet gewesen war. Und sie empfand meistens keinen Neid mehr auf junges, frisches Leben, weil sie ihr eigenes Alter vergessen hatte. Manchmal ließ sie ihre Enkeltöchter zu sich bringen, und ihr Lachen und Geschrei setzten ihr nicht zu wie früher, sondern stimmten sie nur traurig – und weil sie keine Ahnung hatte, woher jene Traurigkeit rührte, war sie hinterher noch verwirrter. Sie sprach Claire mit Valeria an und umgekehrt, und die Mädchen glaubten, es wäre ein lustiges Spiel, und lachten sich kaputt, aber Adele dachte: Wann habe
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