Die Rosen von Montevideo
ich das letzte Mal gelacht? Wann habe ich überhaupt je gelacht?
Der Tod war nie ein Feind gewesen – immer hatte sie mit ihm gerechnet und sich vorgestellt, wie eine Steinstatue, die ihr Antlitz trug, neben ihrem Grab errichtet wurde. Doch jetzt, da ihr das Leben unter den Händen zerrann, empfand sie fehlendes Lachen als ein Versäumnis und die vielen Stunden, da sie sich der Behandlung von ihren Leiden gewidmet hatte, als verlorene Zeit.
Sie verbrachte ganze Tage im Bett und verschlief sie, lag des Nachts aber wach und wurde von Unrast gepackt – auch eines Abends, als Lore ihr warme Asche aufgelegt hatte, die gegen Rheuma helfen sollte. Adele wusste insgeheim: Sie wurde nicht von ihren Knochen gequält, sondern von etwas anderem. Irgendetwas steckte in ihrem Kopf – ein dunkler Knoten, der manchmal Schmerzen mit sich brachte, manchmal ein Gefühl von Taubheit und manchmal, dass sich ihr Blick auf die Welt und auf ihr Leben veränderte.
Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich ein Lachen hörte – jenes Lachen, auf das sie so lange verzichtet hatte. Es kam nicht aus Valerias oder Claires Mund, denn die Kinder schliefen schon, sondern aus dem von Rosa.
Die Verärgerung gegenüber der Schwiegertochter war in den letzten Jahren geschwunden. Aus der lebenslustigen Frau mit rosa Wangen und funkelnden Augen war ein fahles Geschöpf mit stumpfsinnigem Blick geworden. Ihre Schritte, einst laut und schnell, fielen fast so schleichend aus wie die Adeles. Bei den letzten seltenen Begegnungen hatte sie sogar gedacht, dass sie sie eigentlich recht gerne mochte.
Jetzt aber, da sie sie lachen hörte, erwachte plötzlich Hass in Adele – ein lebendigeres Gefühl als alles, was sie in den letzten Jahren gespürt hatte. Sie achtete nicht auf den dumpfen Schmerz in ihrem Kopf, sondern erhob sich. Die warme Asche fiel von ihr, und als Adele auf den grauen Staub blickte, glaubte sie kurz, sie würde selbst zu Asche zerfallen. Ihr war so kalt.
Fröstelnd griff sie nach ihrem Tuch. Wenigstens brannten Kerzen im Zimmer – sie hasste die Dunkelheit. Dunkel war es bei Gerda im Grab. Dunkel in der Familiengruft, wo Albert Gothmann senior ruhte. Was, wenn nicht das Licht, hatte sie ihnen voraus?
Allerdings ging ihr soeben auf, dass sie auf Licht verzichten könnte, wenn sie nur einmal so lachen könnte wie Rosa, kräftig, herzlich, aus voller Kehle.
Sie lugte durch den Türspalt und erwartete Rosa mit Albert anzutreffen, doch stattdessen war der Klavierspieler an ihrer Seite. Adele hatte seinen Namen vergessen.
»Es war so lustig im Theater!«, rief Rosa begeistert.
Hatte sie etwa mit dem Klavierspieler das Theater besucht?
»Na ja, man merkt, dass es von Bankiers finanziert wird. Die begnügen sich mit einfacher Ausstattung und schlechten Schauspielern.«
»Nun, so schlecht auch wieder nicht.«
»Nicht schlecht, da hast du recht, einfach grässlich.«
Adele fand das Theater ebenfalls grässlich. Seit Ewigkeiten war sie nicht mehr dort gewesen – das letzte Mal hatte eines jener Lärmstücke auf dem Programm gestanden, in dem Hexen und Geister, Furien und Teufel ihr Unwesen trieben.
Doch warum lachte der Klavierspieler, wenn es so grässlich gewesen war? Und warum lachte auch Rosa?
»Wir müssen unbedingt bald wieder eine Vorstellung besuchen!«
»Oder wir gehen einmal in die Oper! Wobei – niemand könnte dort mit deiner Stimme mithalten!«
Der Klavierlehrer duzte sie?
»Ach was, du übertreibst.«
Rosa legte ihre Hand auf seine und nickte ihm zu, ehe sie sich für die Nacht verabschiedeten.
Adele wankte zurück ins Zimmer. Sie konnte sich nicht an ihren letzten Opernbesuch erinnern, und auch nicht, wann ihr der Klavierspieler das letzte Mal etwas vorgespielt hatte. Obwohl er meisterhaft musizierte, hatte es in ihren Ohren geklungen, als würden Blechnäpfe aufeinanderreiben.
Ihr Blick fiel erneut auf die Asche, und anstelle von Verwirrung überkam sie bei dem Anblick blanke Wut. Wie konnte Rosa es wagen, so zu lachen! Und das nicht einmal mit ihrem Mann, sondern mit einem Fremden!
Albert nächtigte nun oft in Frankfurt. Es erschien ihm als verlorene Zeit, abends heimzufahren, da Rosa meistens ohnehin schon schlief, wenn er nach Hause kam, und seine Tochter auch. Er betrachtete das Mädchen zwar gerne im Schlaf, das dann immer so friedlich wirkte, und freute sich, dass sie bei guter Gesundheit war, kräftig und lebhaft, aber manchmal nagte immer noch die Enttäuschung an ihm, dass sie kein Sohn
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