Die Rosen von Montevideo
hätte sie alles für Bücher ausgegeben, ganz sicher nicht für feine Stoffe. Am besten, sie sprach doch noch einmal mit Onkel Carl-Theodor.
Sie plante, ihn am nächsten Tag vor Julios Arbeitszimmer abzupassen, wo wie immer dick der Zigarettenrauch hing. Valeria hatte noch nie so viele Menschen rauchen gesehen wie hier in Uruguay: Nicht nur die Männer zündeten sich immer wieder aufs Neue eine Zigarette an – auch die Damen, ja, selbst die Kellner in den Gasthäusern, während sie die Speisen auftrugen.
Sie unterdrückte ein Husten und lauschte, ob sie Carl-Theodors Stimme vernehmen konnte. Von ihm war jedoch nichts zu hören – Julio schien in ein Gespräch mit einem Fremden vertieft.
»Wann ist mit der Lieferung aus Frankreich zu rechnen?«, fragte er eben.
»Noch innerhalb der nächsten Woche.«
»Und es ist wirklich alles dabei, was ich bestellt habe?«
»Wie versprochen – nur die allerbeste Ware! Wer, wenn nicht die Franzosen, könnte so etwas herstellen.«
»Großartig!«
Die beiden Männer lachten zufrieden.
Valeria runzelte die Stirn. Allerbeste Waren aus Frankreich? Was konnte damit gemeint sein? Sie wusste, dass Franzosen viel von Mode verstanden – oft genug hatte sie Tante Antonie prahlen gehört, dass sich nur ihre Landsleute anständig kleiden könnten. Und Carl-Theodor hatte einmal erwähnt, dass Parfüme und Seifen aus Paris nach Montevideo exportiert wurden. Womöglich hatte Julio diese Geschäftsbeziehungen intensiviert und noch mehr Luxusartikel, vielleicht sogar Stoffe, aus Frankreich kommen lassen.
Und seine Tochter bekam nichts davon ab!
Valeria schlich wieder davon. Ehe sie mit Carl-Theodor reden würde, wollte sie noch mehr über diese mysteriöse Lieferung herausfinden.
Claire hatte sich zunächst in ihre Bücher verkrochen, doch bald hatte sie alle wiederholt gelesen, und im Haus der de la Vegas’ gab es zu ihrem Bedauern keine Bibliothek. Sie beschäftigte ihren wachen Geist fortan, indem sie von einem Hausmädchen Spanisch lernte. Schon als Kind hatte sie es oft mit dem Vater geübt und die Fremdsprache darum besser beherrscht als Französisch, das ihnen auf dem Pensionat eingebleut worden war. Hier nun sprach sie es bald flüssig, und je besser sie sich verständigen konnte, desto größer wurde ihr Wunsch, die Stadt zu erforschen.
Natürlich machten Leonora und Isabella mit Valeria und ihr Ausflüge, aber diese fielen immer viel zu kurz aus, und schnell gab es dabei kaum mehr etwas Neues zu entdecken. Nach einem Monat kannte Claire die wichtigsten Straßen in- und auswendig: Die Calle de Sarandí, die längste Straße der Stadt, die direkt auf den Marktplatz und die Markthalle zuführte, welche wiederum aus einem der beiden ursprünglichen Forts errichtet worden war. Die Calle del 25 Mano, der eleganteste und belebteste Boulevard Montevideos. Und schließlich die Avenida 18 de Julio, die vom Plaza de la Independencia wegführte, das Hauptscharnier zwischen Ciudad Vieja und Ciudad Nueva bildete und die bedeutendste Geschäftsstraße Montevideos war.
Leonora ging dort vorzugsweise einkaufen, während Isabella sehnsuchtsvoll die Auslagen betrachtete, aber niemals wagte, um etwas für sich zu bitten. Valeria hatte sich offenbar zum Ziel gesetzt, ihr zu einem neuen Kleid zu verhelfen, doch auch sie schwieg bei diesen Anlässen, hatte sie doch offenbar anderes im Sinn, um Isabellas geheimen Wunsch zu erfüllen, als die Konfrontation mit Leonora zu suchen. Claire entschied, besser nicht nachzufragen. Sie selbst wollte viel lieber mehr über die Stadt erfahren und sie eigenmächtig erkunden! Anfangs war die Furcht, sich zu verlaufen, größer als die Neugierde, aber eines Morgens entschied sie, einfach das Haus zu verlassen. Ihr Vater hatte ihr immer viele Freiheiten zugestanden, so dass sie seine Zustimmung voraussetzte, und Leonora gegenüber fühlte sie sich zu keiner Rechenschaft verpflichtet: Heute wollte sie endlich einmal keine Einkaufsstraße entlangflanieren, sondern das Nationalmuseum besuchen, das dem Publikum während der ganzen Woche zur Benutzung offen stand. Claire las grundsätzlich alles, was ihr in die Finger kam, aber die Naturwissenschaften hatten es ihr ganz besonders angetan. Begeistert studierte sie die umfangreiche Sammlung wertvoller Knochen von urweltlichen Tieren und einheimischen Vögeln wie der Nachtschwalbe, dem Cocoireiher oder dem Trauertyrann. Die irritierten Blicke, die auf sie fielen, weil sie nicht nur allein unterwegs war,
Weitere Kostenlose Bücher