Die Rosen von Montevideo
sondern überdies oft begeistert aufschrie, merkte sie gar nicht. Die Zeit verging wie im Flug, und als sie das Museum verließ, war es Mittag und ihr Fehlen im Haus der de la Vegas’ wohl längst aufgefallen. Dennoch drängte nichts sie zur raschen Heimkehr. Sie schlenderte ganz beseelt von den Eindrücken aus dem Museum durch die Straßen und hoffte, irgendwann auch einen Ausflug ins Umland unternehmen zu können, um die Tierwelt des Landes noch weiter zu studieren.
Obwohl das rechtwinklige Straßennetz die Orientierung eigentlich erleichterte, verirrte sie sich. Anstatt zum Hafen zu gelangen, wie sie es vorgehabt hatte, landete sie bei der englischen Protestantischen Kirche, die direkt am Meer lag. Sie glich mit ihren vier Säulen einem griechischen Tempel, den Claire interessiert in Augenschein nahm. Noch mehr aber als dieses Gebäude fesselte sie der Anblick der vielen Frauen in weißen Badehemden, die einen kleinen Strand, nicht weit von der Kirche entfernt, bevölkerten. Einige spazierten am Wasser entlang, andere genossen die warme Sonne, einige wenige wagten es, in die Fluten zu waten.
Vage erinnerte sich Claire daran, dass Leonora – in einer Mischung aus Sensationsgier und Unverständnis – erzählt hatte, dass das Schwimmen im Meer zunehmend in Mode käme und sich in der Nähe der englischen Kirche der Lieblingsbadeplatz der Frau befände. Sie selbst würde bei einem solch schamlosen Treiben natürlich niemals mitmachen!
Claire konnte sich die wuchtige Leonora auch nur schwer in einem der weißen Badehemden vorstellen und musste bei dem Gedanken an ihre Worte grinsen.
Neugierig ging sie auf den Strand zu. Leonora hatte auch berichtet, dass stets mehrere Polizeibeamte darüber wachten, dass die Frauen vor aufdringlichen Blicken beschützt waren, doch das war – wie so vieles, was sie vollmundig verkündete – reichlich übertrieben. Claire sah nur einen Beamten am Strand stehen – einen großgewachsenen Mann, dessen rotblondes Haar für diese Breitengrade ungewöhnlich hell war und in starkem Kontrast zu seinem dunkel gebräunten Gesicht stand. Er trug eine graue Uniform, kniehohe Stiefel und stand steif wie eine Marmorstatue. Als einziger Mann in der Gegend trafen ihn viele neugierige Blicke, doch der Polizist tat so, als würde er weder sie noch das aufgeregte Tuscheln bemerken, sondern blickte starr aufs Meer, um aller Welt zu bekunden, dass er sich vom Anblick leichtbekleideter Frauen nicht davon abhalten lassen würde, Ertrinkende zu retten.
Nun, so schnell würde hier keine ertrinken, da die meisten Frauen nur knietief im Wasser spazierten. Es war unerwartet klar und funkelte in der Mittagssonne türkis, und als Claire die salzige Meerluft einsog, merkte sie, wie sie geschwitzt hatte. Wie herrlich wäre es, hier zu baden!
Sie war seit Jahren eine begeisterte Schwimmerin. Im Pensionat hatte man zwar diesen Sport als unzüchtig verdammt, doch in allen großen Städten waren Badeanstalten in Mode gekommen – auch für Frauen.
Sie blickte zum strahlend blauen und wolkenlosen Himmel. Gewiss würde das gute Wetter noch für einige Stunden halten – was bedeutete, dass sie in ihrer Unterwäsche schwimmen gehen und diese hinterher von der Sonne trocknen lassen konnte.
Ehe ihr Zweifel kamen, ob es nicht doch besser wäre, wieder nach Hause zurückzukehren, suchte sie sich ein windgeschütztes Plätzchen und legte ihre Kleidung ab.
Der Winter war eben erst zu Ende gegangen und das Wasser darum noch eiskalt. Dennoch zögerte sie nicht, sondern tauchte – anders als die anderen Frauen – gleich mit dem ganzen Körper hinein. Kurz blieb ihr die Luft weg, aber sie machte rasch ein paar kräftige Stöße, um ihre Glieder zu erwärmen, und als Arme und Beine wohlig zu kribbeln begannen, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ins Meer hinauszuschwimmen. Das Wasser brannte auf ihrer Haut, doch solange sie nicht innehielt, vermochte die Kälte ihre Glieder nicht zu lähmen.
Wie herrlich es war, im Meer zu schwimmen, ein größeres Vergnügen noch als in einem Schwimmbecken! Selten hatte sie sich so frei von allen Lasten gefühlt, so lebendig, so abenteuerlustig. Unwillkürlich riss sie die Hände hoch und jauchzte, bevor sie noch weiter ins offene Meer schwamm. Jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, hatte sie eine neue Perspektive auf die Stadt. Der Strand wurde immer kleiner, die Menschen wurden immer winziger. Was sie jedoch gut erkennen konnte, war, dass plötzlich sämtliche Frauen,
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