Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
alleingelassen vor, saß im Schatten der Felsen, die sich über ihr türmten, und sah ihn vor der Weite des Meeres und im Licht des Mondes. Sie versuchte, die Symbolik der Situation nicht überzustrapazieren, aber es war, als hätten sie beide ihre Rollen vertauscht : Er ging in die Freiheit hinaus, während sie gefangen zurückblieb. Und irgendwie stimmte dieses Bild auch, das hatte sie begriffen in den letzten Minuten. Er liebte sie nicht wirklich. Sie gehörte zu den Dingen, die ihm sein Leben im Versteck erleichterten, und so hatte sie eine entscheidende Bedeutung für ihn, aber innerlich hatte er sich nicht an sie gebunden. Er würde sie vergessen, sobald er frei war. Er würde nach Frankreich zurückkehren und sich in sein wiedergewonnenes Leben stürzen, und es würde lachende, fröhliche Mädchen um ihn herum geben, er würde flirten, mit ihnen tanzen, trinken, und er würde sie lieben, und eine von ihnen würde er irgendwann heiraten.
Was werde ich sein in seiner Erinnerung? fragte sich Beatrice. Sie zog sich wieder an, glättete mit den Händen notdürftig die Haare.
Sie würde einfach Beatrice sein, das englische Mädchen, dem er Französisch beigebracht, mit dem er Victor Hugo gelesen und dem er die Unschuld genommen hatte. Er würde sich an ihre blasse Haut erinnern und an ihre widerspenstigen Haare, an ihren knochigen Körper und vermutlich daran, daß sie nicht besonders hübsch gewesen war.
Aber er hatte keine Wahl, und ich war besser als nichts, dachte Beatrice zornig. Sie wühlte heftig mit der Hand im Sand, zog mit den Fingern tiefe Linien und Kerben. Und ich war auch noch dumm genug, mich nachts mit ihm am Strand zu treffen und mein Leben in Gefahr zu bringen.
Julien stand nun schon bis zu den Hüften im Wasser, zögerte einen Moment und ließ sich dann in die Wellen gleiten. Er schwamm mit kräftigen Zügen vorwärts, drehte sich auf den
Rücken, strampelte mit Armen und Beinen, planschte, prustete und vollführte einen Höllenlärm in der bis dahin völligen Stille der Nacht. Zu Beatrices Erschrecken flutete das Mondlicht nun ungehindert vom Himmel, der Wind hatte die Wolken immer weiter auseinandergetrieben, und die Nacht war jetzt von gnadenloser Helligkeit.
Das gibt ein Unglück, dachte sie mit klopfendem Herzen.
Sie stand auf, wagte sich einen Schritt vor.
»Julien!« rief sie halblaut. »Bitte komm zurück! Du machst zuviel Lärm! Komm zurück!«
Natürlich hörte er sie nicht. Er spielte im Wasser wie ein Kind oder ein lebenslustiger Delphin. Er bewegte sich wie auf einem Präsentierteller, herausfordernd oder selbstvergessen, das vermochte Beatrice nicht zu sagen.
Ich sollte gehen, dachte sie, ich sollte ihn allein lassen in diesem Wahnsinn und sehen, daß ich wegkomme.
Als der Schuß krachte, ohrenbetäubend laut, wußte sie in der ersten Sekunde nicht einmal, was sie da gehört hatte und woher das Geräusch gekommen war. Doch im nächsten Moment fiel der zweite Schuß, und dann erklang eine scharfe Stimme, die auf deutsch durch ein Megaphon rief: »Verlassen Sie sofort das Wasser! Kommen Sie sofort an Land!«
Lichter flammten von den Klippen herab. Jetzt waren viele Stimmen zu hören, deutsche Stimmen. Es mußte sich um Soldaten handeln, die oben am Klippenpfad aufgetaucht waren und sich nun zweifellos an den Abstieg hinunter in die Bucht machten.
Beatrice wich tiefer zwischen die Felsen zurück. Sie fühlte sich wie ein Kaninchen in der Falle, gefangen zwischen Meer und Klippen und umzingelt von bewaffneten Feinden. Wieder wurde geschossen, die Kugel traf platschend ins Wasser auf, schlug aber weit entfernt von Julien ein. Er schien sich außer Reichweite zu befinden, aber das würde ihm nichts nützen, denn er würde zurückschwimmen müssen.
Ergib dich, flehte sie im stillen, ergib dich, um Gottes willen, das ist deine einzige Chance!
Julien hatte wie erstarrt innegehalten, als der erste Schuß gefallen war, so überrascht, als sei das Auftauchen der deutschen Soldaten
das letzte, womit er gerechnet hätte. Auch beim zweiten Schuß hielt er still, starrte zum Strand, schien die Situation zu analysieren.
Der dritte Schuß brachte ihn in Bewegung. Aber anstatt der Aufforderung — die er nicht einmal verstanden haben mochte, da sein Deutsch sehr schlecht war — Folge zu leisten, schlug er die entgegengesetzte Richtung ein, kraulte in raschem Tempo weiter ins Meer hinaus und bog dann in westliche Richtung ab. Das lange Herumsitzen in seinem Versteck mochte ihn
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