Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
abfangen.
Sie steigerte ihr Tempo, ignorierte die Schmerzen in ihren Fingerknochen, die vom angespannten Umklammern der Schuhe herrührten. Die letzten Felsen ... Ihre freie Hand griff in Gras, mit einer letzten Anstrengung zog sie sich hinauf, sank keuchend in sich zusammen.
Sie war oben. Sie hatte es geschafft.
Sie wußte, daß sie hier nicht liegen bleiben durfte. Es wimmelte von deutschen Soldaten um sie herum. Sie mußte weiter, so schnell sie konnte.
Auf allen vieren kroch sie vorwärts. Sie wagte nicht, aufrecht zu laufen, weil sie im hellen Mondlicht eine weithin sichtbare Silhouette abgegeben hätte. Erst als sie ein kleines Waldstück erreicht hatte, hielt sie inne, lehnte sich an einen Baumstamm und atmete tief durch. Sie ließ die Schuhe fallen, entspannte ihre schmerzenden Hände. Jetzt merkte sie, wie erschöpft und ausgepumpt sie war. In ihren Seiten stach es, ihre Beine zitterten, ihr Kopf dröhnte. Sie war naßgeschwitzt am ganzen Körper.
Sie barg das Gesicht in den Händen, wartete, daß sich das Beben in ihr beruhigte.
Was war aus Julien geworden?
Er konnte nicht die ganze Insel umschwimmen. Irgendwo mußte er inzwischen an Land gegangen sein. Hatten sie ihn abgefangen?
Wie konnte er so wahnsinnig sein? fragte sie sich verzweifelt. Wie konnte er nur so schrecklich damm sein?
Irgendwie mußte sie rasch nach Hause gelangen. Sie konnte nur hoffen, daß man Erich nicht bereits von der Aktion in Kenntnis gesetzt
hatte, er wach war und somit ihr Verschwinden entdeckt hatte. Wohin, zum Teufel, sollte sie mit Juliens Kleidungsstücken?
Mühsam kam sie auf die Füße, ergriff die Schuhe, machte sich auf den Heimweg. Im Wald blieb alles still, niemand schien sich hier aufzuhalten. Sie lief einen gewaltigen Umweg, umrundete das Dorf, näherte sich dem Haus ihrer Eltern von der Rückseite. Die Auffahrt zu nehmen erschien ihr zu riskant.
Sie huschte in den Garten, spähte nach der Patrouille, hielt den Atem an, aber alles blieb still. Sie betrat das Gewächshaus, das am Ende des Grundstücks stand und das inzwischen in einen Zustand völliger Verwahrlosung geraten war, da Pierre allein mit seiner Arbeit nicht fertig werden konnte.
In einer Ecke stapelten sich Säcke mit Erde und Torf, denen man ansah, daß sie seit Jahren nicht mehr von der Stelle bewegt worden waren. Beatrice rutschte sie ein Stück zur Seite, verstaute Kleidungsstücke und Schuhe dahinter, rückte die Säcke wieder an ihren Platz. Vorerst erschien ihr der Ort als ein sicheres Versteck, später mußte sie weitersehen.
Sie gelangte ungesehen ins Haus und in ihr Zimmer hinauf, aber erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, konnte sie ein wenig ruhiger atmen. Sie schälte sich aus ihren Kleidern, die sich feucht anfühlten von ihrem Schweiß, legte sie achtlos über einen Sessel, kroch unter ihre Bettdecke und krümmte sich zusammen wie ein Embryo, krank vor Erschöpfung und Angst. Ihr war übel, und ihre Zähne schlugen aufeinander. Langsam drang nun die Erkenntnis in ihr Bewußtsein, welch ein Wunder es war, daß sie noch lebte, daß sie leicht hätte erschossen werden können, daß sie um Haaresbreite dem Tod entkommen war.
Hoffentlich muß ich mich nicht übergeben. Hoffentlich lebt Julien noch. Hoffentlich finden sie ihn nicht. Hoffentlich habe ich die Kleider sicher genug versteckt.
Die Gedanken rasten in ihrem Kopf. Einmal war sie dicht daran, aufzustehen und ins Bad zu laufen, so sicher war sie, sich erbrechen zu müssen, aber ihr Magen beruhigte sich wieder, und sie sank in die Kissen zurück.
Irgendwann, in den frühen Morgenstunden, fand sie ein wenig unruhigen Schlaf. Sie erwachte von Stimmen und Rufen, von Motorenlärm
und dem Tritt schwerer Stiefel auf der Treppe. Das Haus schien voller Menschen zu sein, und es herrschte eine ungewöhnliche Aufregung.
Julien, dachte sie sofort.
Es war acht Uhr, und niemand hatte sie geweckt, aber ihr fiel ein, daß Samstag war und sie nicht zur Schule gehen mußte. Ihr war immer noch übel, und als sie aufstand und in den Spiegel sah, stellte sie fest, daß sie bleich und elend und wirklich krank aussah.
Sie räumte ihr zerknittertes Kleid in den Schrank, suchte ein frisches heraus, zog es an. Ihre Haare standen in alle Richtungen, es war wieder einmal unmöglich, sie zu bändigen, und sie faßte sie einfach mit einer Schleife zusammen.
Als sie das Zimmer verließ, kam schon Helene auf sie zu.
»Da bist du ja! Große Aufregung!« wisperte sie. »Heute nacht haben sie
Weitere Kostenlose Bücher