Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
Sie hat so geweint, daß ich sie ganz lange nicht verstand. Ich hatte sie eigentlich nur angerufen, weil ich sie bitten wollte, mir noch etwas Geld zu schicken... und dann so etwas! Ich habe dann dauernd versucht, dich zu erreichen. Ich wollte mit jemandem sprechen, der Helene kennt, der so fassungslos ist wie ich ...« Sie hielt inne. In ihren Augen stand echtes Entsetzen.
Es war ein sehr seltsamer Moment, fand Alan. Er erlebte Maja zum erstenmal, seit er sie kannte, in einem Zustand der Echtheit. Ihre Erschütterung war ungekünstelt. Es war, als sei eine Maske von ihrem Gesicht genommen worden und als stehe sie für den Moment als der Mensch da, der sie war: ein nettes, normales Mädchen.
»Es ist entsetzlich«, sagte Alan, »unfaßbar. Ein solches Verbrechen auf Guernsey ...« Er dachte an Helene. Sie hatte immer unverzichtbar zu seinem Leben gehört. Wie eine Tante, die eben stets da war. Helene hatte auf ihn aufgepaßt, wenn Beatrice nicht zu Hause gewesen war, hatte ihm Geschichten erzählt, Kuchen für ihn
gebacken, ihm deutsche Märchen vorgelesen und ihn getröstet, wenn er nachts aus Alpträumen aufschreckte. War irgend etwas schiefgegangen, so war er immer zu Helene gelaufen. Beatrice konnte hart sein, manchmal verständnislos, häufig gereizt. Helene war stets ausgeglichen gewesen. Sanft und immer freundlich, hilfsbereit und fürsorglich. Er hatte ihr schlechte Noten gebeichtet und jeden Ärger, den er mit Lehrern oder Mitschülern gehabt hatte.
Er konnte es sich nicht vorstellen, daß Helene tot sein sollte. Und noch weniger konnte er sich vorstellen, daß sie auf eine so entsetzliche Weise ums Leben gekommen war. Wie fürchterlich, dachte er, und das Grauen überschwemmte ihn mit einer Woge von Übelkeit. Wie sehr muß sie gelitten haben!
»Großmutter sagt, die Handtasche habe neben ihr gelegen«, sagte Maja, »und offensichtlich seien ihr Geld und ihre Kreditkarte da gewesen... man hat sie wohl nicht berauben wollen.«
»Ein Sexualverbrechen ist auch auszuschließen?« fragte Alan. Er hatte nicht lange mit Beatrice gesprochen, war zudem viel zu erschüttert gewesen, um überhaupt eine Frage zu stellen.
»Bestimmt nicht«, sagte Maja, »wer würde denn über so eine alte Frau herfallen?«
»So etwas passiert schon hin und wieder«, sagte Alan, »es passieren im übrigen noch ganz andere Dinge.«
»Es heißt, die Polizei tappt völlig im dunkeln, was das Motiv angeht«, sagte Maja. »Also scheint ein Sexualverbrechen auch nicht vorzuliegen.«
»Ich kann mir nur vorstellen, daß es sich bei dem Täter um einen Geisteskranken handelt«, meinte Alan, »ein Verrückter, der einfach um des Tötens willen handelt. Helene hatte das Pech, im falschen Moment am falschen Ort zu sein. Was tat sie überhaupt nachts auf der Straße?«
»Sie kam von Kevin zurück. Der Taxifahrer setzte sie ein Stück unterhalb des Hauses ab, um besser wenden zu können. Auf diesem letzten Wegstück ...« Maj atmete tief durch.
»Kann ich auch einen Whisky haben?« fragte sie mit leiser Stimme.
Schweigend schenkte Alan ein, reichte ihr das Glas. Sie kippte den Whisky wie Wasser hinunter.
»Scheiße«, sagte sie inbrünstig, »ich habe im Moment das Gefühl, nie wieder unbefangen sein zu können. Weißt du, was ich meine? Irgendwie war vorher alles in Ordnung, aber nun kann nichts mehr so sein, wie es war. Viele Jahre lang nicht.«
Er verstand, was sie ausdrücken wollte. Gewalt in dieser Form war weder in ihrem noch in seinem Leben jemals vorgekommen. Gewalt kannte man aus den Fernsehnachrichten und aus den Zeitungen. Man wußte davon, wurde aber nicht selbst davon berührt. Nun war die Gewalt greifbar geworden. Die Wunde, an der Helene verblutet war, hatte auch die Menschen in ihrer Umgebung verletzt.
Vielleicht hat sie recht, dachte Alan, vielleicht wird wirklich nie wieder etwas so sein, wie es einmal war.
»Meine Mutter sagt, sie geben die...« Er biß sich auf die Lippen. Er hatte »Leiche« sagen wollen. Aber das Wort klang so furchtbar im Zusammenhang mit Helene, daß er es nicht aussprechen konnte. »Die Polizei gibt Helene Anfang nächste Woche frei«, sagte er, »am Mittwoch soll sie beerdigt werden.«
»Wirst du dabeisein?«
»Natürlich. Helene ist... war eine Art zweite Mutter für mich. Außerdem muß ich mich um Beatrice kümmern. Sie wird jetzt Hilfe brauchen.«
»Das glaube ich weniger«, meinte Maja. »Beatrice ist sicher geschockt wie wir alle, aber ihr Schmerz wird sich durchaus in Grenzen
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