Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
Sie mich nicht, Franca. Mein Magen ist wie zugeschnürt.«
»Was ist passiert?«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Ich kann darüber nicht sprechen. Es ist alles... zu nah. Zu frisch. Ich muß es verarbeiten, und ich brauche Zeit dafür.«
Franca drängte nicht weiter. In gleichmütigem Ton sagte sie: »Maja machte heute eine eigenartige Bemerkung. Wir haben uns ja an Helenes Grab getroffen und beide dabei erst richtig realisiert,
daß sie und Erich beide am selben Tag gestorben sind - am I. Mai. Ein eigenartiger Zufall, nicht?«
»Es gibt keine Zufälle«, sagte Beatrice. Der Ausdruck ihrer Augen war wacher geworden. »Welche Bemerkung machte Maja denn? «
»Wir sprachen über den Tag, an dem Erich starb, und ich erzählte, daß er wohl hätte gerettet werden können, wenn es möglich gewesen wäre, einen Arzt aufzutreiben - was aber wegen des allgemeinen Chaos auf der Insel nicht möglich war. Maja reagierte verwundert. Ihre Urgroßmutter hatte ihr erzählt, Dr. Wyatt sei an jenem Nachmittag doch bei Ihnen gewesen; er war wohl wegen eines Zwischenfalls mit einem französischen Zwangsarbeiter zu Hilfe gerufen worden. Ich hatte es aber so verstanden, daß am Nachmittag des Unglücks mit Erich schon geschehen war, daß er den Nachmittag im Todeskampf verbrachte. Aber dann hätte doch Dr. Wyatt nach ihm sehen können, nicht wahr? « Franca zuckte die Schultern. Sie sah Beatrice an. »Aber möglicherweise habe ich irgend etwas falsch aufgefaßt.«
Es war dunkler geworden, der Restaurantgarten lag tief im Schatten. Beatrices blasses Gesicht sah in diesem letzten dämmrigen Licht des Tages grau aus - aber vielleicht, dachte Franca, liegt es gar nicht an dem Licht. Sie leidet an einem tiefen Schmerz. Sie ist grau vor Kummer.
»Dieser I. Mai damals«, sagte Beatrice leise, »dieser I. Mai 1945... Mein Gott, was für ein Tag! Ein so schicksalhafter Tag. Alles entschied sich damals innerhalb weniger Stunden, und wir beeinflußten die Entscheidung, ohne sie in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen.«
Franca lehnte sich nach vorn. Zum zweitenmal innerhalb weniger Minuten legte sie ihre Hand auf die von Beatrice. Sie spürte die rauhe, faltige Haut der alten Frau und nahm das leise Zittern wahr, das ihren Körper erfüllte.
»Was geschah an jenem Tag, Beatrice?« fragte sie mit leiser Stimme. »Was geschah an jenem I. Mai vor fünfundfünfzig Jahren?«
Guernsey, Mai 1945
Seit Jahresbeginn steuerte Deutschland auf das endgültige Desaster zu, und die Stimmen, die den Endsieg beschworen, wurden leiser und zaghafter. Die Deutsche Guernsey Zeitung brachte noch immer Durchhalteparolen auf ihrer Titelseite, aber es gab wohl kaum noch jemanden auf der Insel, der tatsächlich daran geglaubt hätte. Wir geben nicht auf, prangte dort immer wieder in dicken Lettern, und das selbst am 20. April noch; am Geburtstag des Führers übertrafen die deutsche Zeitung, der Star und die Evening Press einander mit Lobeshymnen auf die Person Adolf Hitlers und bekräftigten seine unvermindert anhaltende Entschlossenheit, sein Volk zum Sieg zu führen. Zu diesem Zeitpunkt war Berlin bereits von den Russen umschlossen, war Polen befreit, waren Ostpreußen und Schlesien von russischen Truppen erobert worden, drängten sich Hunderttausende von Flüchtlingen in den zerbombten Städten, kapitulierte eine deutsche Armee nach der anderen. Nicht einmal ein Wunder hätte das zusammenbrechende Reich noch retten können. Der Krieg war entschieden, und wer noch verkündete, das Blatt werde sich zu Deutschlands Gunsten wenden, log oder war so hoffnungslos in seiner Ideologie verfangen, daß er selbst angesichts unverkennbarer Tatsachen noch immer die Augen verschließen konnte.
Erich, inzwischen zum Oberstleutnant befördert, änderte seine Meinung mindestens fünfmal am Tag. Seine Stimmungsschwankungen, die schon immer auffällig gewesen waren, hatten noch zugenommen, zeigten sich nun völlig willkürlich, so daß niemand mehr berechnen konnte, wann man ihm auf welche Weise begegnen mußte. Zum erstenmal gab Erich offen zu, daß er Tabletten nahm, daß er Tabletten brauchte. Auf den Inseln, die abgeschieden waren von der Außenwelt, gab es kaum noch Lebensmittel, kaum noch Medikamente, und schon gar keine stimmungsaufhellenden Präparate mehr. Erich saß auf dem trockenen. Je weiter das Frühjahr voranschritt, desto verzweifelter wurde seine Situation. Er war seinen Ängsten, seinen Phobien und seiner Depression wehrlos ausgeliefert. Manchmal sprach er
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