Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
hinter der Mauer gesessen«, sagte Beatrice, »und versucht, dieses Buch zu lesen.« Sie hielt das Buch hoch, das Will ihr gegeben hatte. »Aber ich verstehe fast nichts. Ich versuche, Deutsch zu lernen, aber irgendwie komme ich einfach nicht voran.«
»Du wirst es schaffen«, sagte Helene, »in deinem Alter lernt man schnell. Manchmal denkt man, es geht nicht weiter, aber plötzlich öffnen sich die Schleusen, und man weiß nicht, weshalb man vorher ein Problem hatte. Du wirst sehen, bald träumst du in deutsch. «
Beatrice empfand diese Vorstellung nicht unbedingt als tröstlich, aber sie verstand, daß es Helene gut mit ihr meinte. Die Befürchtungen, die sie hinsichtlich der fremden Mrs. Feldmann gehegt hatte, zerrannen, aber auch die für Sekunden aufgeflammte Hoffnung, jemand gefunden zu haben, der sie in die Arme nehmen und nach ihrem Schmerz fragen würde, verging so schnell, wie sie gekommen war. Helene mochte eine erwachsene Frau sein, aber sie hatte die Konstitution eines Vogels, der aus dem Nest gefallen ist. Ihr Trost würde sich auf ein hilfloses Bemühen um die richtigen Worte beschränken, und noch während sie nach ihnen suchte, würden ihre Augen immer darum betteln, selbst getröstet zu werden.
Helene begann schon wieder zu weinen; sie stammelte eine Entschuldigung deswegen, aber offenbar vermochte sie ihre Tränen nicht einzudämmen. Beatrice wartete einen Moment, dann setzte sie sich vorsichtig neben sie auf den moosigen Rand der Vogeltränke, und schließlich legte sie ihr schüchtern den Arm um die Schultern.
Diese Bewegung genügte, Helene den letzten Rest an Selbstbeherrschung verlieren zu lassen. Laut aufschluchzend, barg sie ihren Kopf an Beatrices Hals.
»Es wird alles gut«, sagte Beatrice, ohne an die Wahrheit dieses Satzes zu glauben und ohne zu wissen, worin Helenes Schmerz bestand. Helene weinte und weinte, aber allmählich wurde sie ruhiger, ihr Körper zitterte nicht mehr, sie schien irgendeine Art von Hoffnung zu schöpfen, ohne daß sie vermutlich hätte zum Ausdruck bringen können, worin diese Hoffnung bestand. Sie fand in der elfjährigen Beatrice den Halt, nach dem sie gesucht hatte, solange es sie gab.
8
»Und so ist es geblieben bis heute«, sagte Beatrice, und Kevin, der gerade die Schüssel mit dem Gemüse auf den Tisch stellte, sah sie überrascht an.
»Was ist los?«
»Nichts. Ich habe nur gerade an Helene gedacht. An unsere erste Begegnung zwischen all den Rosen unseres Gartens.«
»Ich habe dir schon mal gesagt, du solltest nicht soviel an die Vergangenheit denken.«
»Eigenartig«, sagte Beatrice versonnen, »es fallen einem so viele kleine Details ein, wenn man sich wirklich erinnert. Dinge, die man jahrzehntelang nicht im Gedächtnis hatte. Plötzlich sind sie wieder da.«
»Und was ist dir eingefallen?« fragte Kevin. »Welches wichtige Detail? «
»Mir ist das Kleid wieder eingefallen, das Helene an jenem Tag
trug. Ich sehe es genau vor mir. Lange Zeit hätte ich es nicht beschreiben können, aber jetzt weiß ich wieder, wie es aussah.«
Kevin brachte die Kartoffeln. »Und was ist daran so besonders? «
»Nichts. Ich finde diesen Prozeß des Erinnerns nur sehr interessant. Helenes Kleid damals sah genauso aus, wie ihre Kleider heute noch aussehen: romantisch, verspielt, jungmädchenhaft. Sie ist von diesem Stil nie abgewichen. Als sei sie stehengeblieben auf einer Stufe und habe nicht weitergekonnt.«
»So ist sie eben.«
»Mir ist noch etwas anderes eingefallen. Helene lag in meinen Armen und weinte, und irgendwann, nach einer unendlich langen Zeit, versiegten ihre Tränen, und sie löste sich von mir. Und dann sagte sie zu mir ...«
»Was sagte sie?« fragte Kevin, als Beatrice stockte.
»Sinngemäß sagte sie etwas in der Art, ich sei ein sehr tapferes kleines Mädchen. Ich sei stark, und ganz sicher würde ich einmal mein Leben in beide Hände nehmen und ... und furchtlos angehen, was immer auf mich zukomme.«
»Kluge Frau«, sagte Kevin. »Sie hatte recht. Und das, obwohl sie dich kaum kannte.«
Beatrice starrte in die Kerzenflamme, deren Schein unruhig an den Wänden zuckte. »Sie sagte noch etwas: Sie sei nie so gewesen wie ich und werde nie so sein. Und es werde ihr nie möglich sein, ein Leben so zu führen, wie sie es wolle.«
Sorgfältig richtete Kevin Gemüse, Kartoffeln und Fisch auf den vorgewärmten Tellern an.
»Typisch Helene«, sagte er, »aber das ist auch nichts Neues. So redet sie doch immer. «
»Aber damals«,
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