Die Rosenzüchterin - Link, C: Rosenzüchterin
wieder ins Bett?«
»Geh du nur. Ich werde wirklich noch etwas fernsehen. Ich glaube nicht, daß ich jetzt schlafen kann.«
Michael schien noch irgend etwas sagen zu wollen, entschied sich jedoch dagegen. Seine nackten Füße patschten leise auf den Steinfliesen im Flur.
Franca drückte ihre Stirn, die sich plötzlich heiß anfühlte, gegen die kühle Scheibe des Wohnzimmerfensters. Frei. Könnte sie nur frei sein. Frei von ihren quälenden Erinnerungen, frei von alten Bildern und Gefühlen. Befreit von sich selbst.
10
24. Dezember 1999
Liebe Franca,
heute ist Weihnachten, und ich schicke ein ganzes Paket mit Briefen an Sie ab. Sicher haben Sie schon geglaubt, ich will überhaupt nichts mehr von Ihnen wissen, weil ich so lange nichts mehr von mir habe hören lassen. Aber wie Sie sehen, habe ich dennoch fleißig an Sie geschrieben, zehn Briefe, wie ich gerade nachgezählt habe, bloß hatte ich eine eigenartige Hemmung, sie abzuschicken. Fragen Sie mich nicht, warum. Vielleicht, weil Sie immer noch eine Fremde für mich sind, was für mich einerseits eine Einladung ist, Ihnen Dinge mitzuteilen, die ich bislang für mich behalten habe, was mich andererseits aber auch immer wieder blockiert und sehr nachdenklich werden läßt. Ich frage mich dann, warum ich Ihnen schreibe, und da ich darauf nie eine zufriedenstellende Antwort finde, werde ich unsicher und bin wieder für einige Tage sehr zurückhaltend und wenig gesprächsbereit — besser: wenig bereit zum Schreiben. Noch genauer: Zum Schreiben bin ich bereit, aber nicht zum Absenden. Jedesmal denke ich: Ich tue es für mich. Ich schreibe die bösen und guten Erinnerungen auf, und dann lege ich alles in eine Schublade, und dort kann es dann verstauben.
Mit dem Schreiben ist es wie mit einer Lawine. Es fängt mit ein
bißchen Schnee an, aber dann wird es immer mehr, mehr Schnee, aber auch Geröll und Erde und ganze Bäume. Zum Schluß donnert da etwas dem Tal entgegen, das durch nichts auf der Welt mehr aufzuhalten ist. Ich könnte jetzt nicht mehr aufhören, und ich will es auch nicht. Und da ich natürlich nicht frei bin von Eitelkeit und mir Ihr Interesse schmeichelt, werde ich mir heute ein Herz nehmen und Ihnen den ganzen Packen Briefe schicken, der sich angesammelt hat.
Es ist noch früh am Morgen, aber mit meinen Hunden bin ich schon fort gewesen, in tiefster Finsternis. Wir haben keinen Schnee; der ist sowieso außerordentlich selten auf den Inseln, aber ich erinnere mich, daß am Weihnachtstag 1940, dem ersten Weihnachten unter deutscher Besatzung, eine dünne Schicht weißen Puderzuckers über allen Wiesen, Bäumen und den steinernen Mauern lag. Die Deutschen sind wild nach Schnee an Weihnachten, und sie gerieten richtig in Rührung, als wir ihnen diesen gleichsam als Willkommensgruß auf Guernsey präsentierten. In den vielen, vielen Jahren danach hat es natürlich noch manchmal geschneit, aber da kann ich mich nicht im einzelnen erinnern. Aber an den 24. Dezember 1940 werde ich immer denken.
Der 24. Dezember war Erichs Geburtstag. Ich glaube, auf der einen Seite war Erich immer stolz, an einem so privilegierten Datum zur Welt gekommen zu sein — und auf der anderen Seite ärgerte er sich, daß Christus ihm regelmäßig die Schau stahl. Anders als bei uns, ist in Deutschland ja der Vierundzwanzigste der große Tag, und sosehr Erich natürlich dafür sorgte, daß man ihn gebührend feierte, sowenig konnte er verhindern, daß auch den untertänigsten unter seinen Landsleuten ganz andere Dinge in den Köpfen herumgingen als sein Wiegenfest. In den fünf Jahren, die ich das Vergnügen hatte, mit Erich Feldmann unter einem Dach zu leben, endete jedes Weihnachtsfest — bis auf das letzte — in einem Desaster, weil Erich jedesmal glaubte, nicht genügend gewürdigt zu werden.
Wir werden morgen feiern, richtige englische Weihnachten. Ich hoffe, der Tag wird harmonisch verlaufen. Für Helene habe ich eine Bescherung vorbereitet, ein paar nützliche Dinge, Bücher, CDs und jede Menge Marzipan, denn danach ist sie verrückt, auch wenn sie — wie von allem — behauptet, es nicht essen zu können.
Von ihr werde ich Parfüm bekommen, das bekomme ich immer, zu Ostern, zum Geburtstag, zu Weihnachten. Und sie hat mir einen Fotokalender geklebt, das macht sie auch jedes Jahr. Die Motive sind Rosen. Für jeden Monat eine andere Rose, manchmal ein ganzer Strauch, dann wieder eine einzelne geschlossene Blüte, eine geöffnete Blüte, auf deren Blättern der Tau
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