Die rote Agenda
Begrüßung zu, bevor er seinen Vorgarten betrat.
Richard
steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und machte sie hinter sich
schnell wieder zu. Dann schaltete er die Alarmanlage aus. Er sah sich das
Display an: Niemand war während seiner Abwesenheit ins Haus eingedrungen.
Er stieß
einen erleichterten Seufzer aus. Vielleicht war seine Nervosität ja
übertrieben. Die am Nachmittag auf dem Anrufbeantworter hinterlassene Nachricht
konnte ein schlechter Scherz sein, den ihm ein amerikanischer Kollege [14] gespielt
hatte; oder jemand, der bloß den Akzent imitiert hatte. Sicherlich hatte es
nichts mit dem zu tun, was er zwischen den Papieren bei Sommer’s gefunden
hatte.
Doch auf
alle Fälle war es besser, vorsichtig zu sein, sagte er sich und stieg die
Treppe hoch, die in den zweiten Stock seines eleganten Hauses voller Bücher,
wertvoller Objekte und schöner Teppiche führte. Lowelly Grey, Spross einer
einflussreichen englischen Familie, war der weltweit bedeutendste Experte für
Arthur Conan Doyle und dessen Geschöpf Sherlock Holmes. Die riesige Sammlung
von Büchern, Dokumenten und seltenen Objekten, die er zusammengetragen hatte,
seit er ein Junge war, wurde zum großen Teil im Familiensitz in Sussex
verwahrt; doch viele wertvolle Stücke befanden sich auch in Kensington. Er war
nun fünfzig Jahre alt und hatte einige grundlegende Essays über das Werk Arthur
Conan Doyles sowie eine unübertroffene Bibliographie veröffentlicht. Schon seit
einer Weile träumte er allerdings davon, eine bahnbrechende Biographie des
Schriftstellers zu verfassen, ein Werk, das den Vater des berühmtesten
Detektivs aller Zeiten in ein neues Licht stellen würde. Doch dies schien wegen
der verfluchten Versteigerung, die bei Sommer’s stattfinden sollte, nicht mehr
möglich zu sein.
Richard
nahm die Agenda aus der Jackentasche. Er hatte sie am Nachmittag aus dem
Auktionshaus entwendet, bei dem letzten seiner beiden Besuche, die ihm, dank
seines Prestiges als Forscher, gestattet worden waren, um die Dokumente des
Doyle-Archivs in Augenschein zu nehmen. Als er zwischen den Papieren einen
Umschlag gefunden hatte, von dem er sicher war, ihn bei seinem letzten Besuch
nicht gesehen zu haben, hatte er ihn geöffnet und die Agenda [15] in der Hand
gehalten. Nachdem er sie durchgeblättert hatte, beschloss er, sie mit nach
Hause zu nehmen, und beging damit den ersten Diebstahl seines Lebens.
Er öffnete
den hinter einem Gemälde in seinem Arbeitszimmer verborgenen Wandsafe, warf
einen kurzen Blick darauf und schloss ihn wieder. Zu offensichtlich, sagte er
sich. Er musste ein besseres Versteck finden.
Er ging ans
Bücherregal, nahm einen Gedichtband von Eliot heraus, machte den Umschlag ab
und legte ihn um die Agenda, die das gleiche Format wie das Buch hatte. Dann
stellte er den falschen und den echten Eliot nebeneinander ins Regal. Für den
Augenblick mochte das als Versteck ausreichen.
Diese
Agenda hatte ihm gerade noch gefehlt. Die Versteigerung war ein Stich ins Herz gewesen.
Entgegen dem testamentarischen Willen Lady Jeans, der verstorbenen Tochter des
Schriftstellers, würde das wertvolle Material des Doyle-Archivs in wenigen
Tagen versteigert und in Privatsammlungen überall auf der Welt zerstreut
werden. Alles wegen der Intrigen ferner Verwandter und einiger skrupelloser Anwälte.
Doch diese Agenda würde nicht das gleiche Schicksal erleiden.
Er wunderte
sich, dass er den Mut gehabt hatte, etwas so Unkorrektes zu tun. Diebstahl
blieb Diebstahl, auch wenn man es für einen guten Zweck tat. Aber war es
vielleicht kein Diebstahl, was die fernen Verwandten Arthur Conan Doyles gerade
ins Werk setzten und dabei den Willen der einzigen wahren Erbin missachteten?
Seit er die
Agenda gefunden hatte, hatte Lowelly Grey sich gefragt, wie sie in das Archiv
des Schriftstellers geraten [16] war. Jemand musste sie nach seinem ersten Besuch
zwischen den Papieren versteckt haben, dessen war er sich sicher. Aber wer?
Er ging zur
Hausbar und schenkte sich einen Whisky ein. Er musste versuchen, sich zu
beruhigen, doch das war nicht leicht bei all dem, was er gerade durchmachte.
Wieder musste er an den immensen Schaden durch den Verlust der wertvollen
Dokumente denken, und er fragte sich, wie er ohne sie eine seriöse Biographie
Arthur Conan Doyles schreiben sollte.
In den
Tagen nach der traurigen Nachricht hatte er versucht, den englischen
Kulturbetrieb aufzurütteln, leider ohne Erfolg. Er hatte protestiert, wo immer
er
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