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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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erfrieren.
    Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte. Im Traum hatte er an zwei gekreuzten Planken gehangen. Es war der Knecht, der ihn angenagelt hatte, und die Mägde hatten zu seinen Füßen gelegen und geschlafen, die Decke bis zum Hals hochgezogen.
    - Sie werden mich annageln, sagte er.
    - Was meinst du damit?

    - Sie werden mich an Planken nageln. Und mich in der Kirche aufstellen.

    Sanna schüttelte den Kopf.
    - Wer hat das gesagt?
    - Hallen.

    - Will der Pastor dich an Planken nageln? Das darf er nicht. Das ist verboten. Man darf Menschen den Kopf abschlagen. Aber an Planken nageln darf man sie nicht.
    - Er hat es gesagt.
    Sanna sah ihn nachdenklich an. Sie nagte an ihren Lippen, während sie überlegte.
    - Vielleicht gilt das nicht für solche, die schwarz sind, sagte sie. Solche wie dich darf man vielleicht annageln.
    Dann schrie sie los, so schrill, daß die schwarzen Vögel aus den Baumwipfeln aufflatterten.

    - Das darf er nicht.
    - Ich werde weglaufen.

    - Wohin willst du gehen? Sie werden dir nachkommen. Sie
    werden dich einfangen.
    - Ich verstecke mich.
    - Aber du bist schwarz. Du kannst dich nicht verstecken.

    - Ich mache mich unsichtbar.
    Wieder begann Sanna an ihren Lippen zu nagen.

    - Kannst du das?
    - Ich weiß nicht.
    Sie setzte sich dicht neben ihn und nahm seine Hand.

    - Falls du anfängst zu schreien, wenn sie dich annageln, verspreche ich dir, daß ich auch schreien werde. Dann tut es ein bißchen weniger weh.
    - Danke.
    - Du wirst da sowieso nicht lange hängen. Denn du bist ein Mensch, und Menschen, die tot sind, riechen schlecht. Aber ich werde Blumen auf dein Grab legen.

    - Danke.
    Sanna saß einen Moment still da. Daniel versuchte sich zu entscheiden, wann er weglaufen sollte. Sollte er warten oder sollte er schon heute nacht aufbrechen? Er sah ein, daß Sanna niemals wagen würde, mit ihm zu kommen. Bestimmt hatte sie auch nicht die Geduld, die man brauchte, um zu lernen, wie man auf dem Wasser geht. Trotzdem wollte er es ihr erzählen. Er mußte seine Gedanken mit jemandem teilen. Vielleicht könnte sie ihm auch helfen, diejenigen, die nach ihm suchen würden, auf die falsche Fährte zu setzen.

    Er sagte ihr, wie es war. Er wollte weglaufen. Vielleicht schon in dieser Nacht. Er würde sich zum Meer durchschlagen, und wenn er erst gelernt hätte, wie er es anstellen mußte, daß das Wasser ihn trug, würde er gehen, bis er wieder zu Hause war. Sanna hörte mit offenem Mund zu.

    - Du bist nicht bei Trost, sagte sie, als er verstummt war. Ich
    verstehe nicht die Hälfte von dem, was du sagst. Aber soviel begreife ich, daß du genauso verrückt bist wie ich.
    - Was bedeutet es, verrückt zu sein?

    - Wenn man so ist wie ich. Ich bin nicht ganz richtig im Kopf. Ich begreife nicht, was die Leute zu mir sagen. Manchmal sagen sie, daß ich dumm bin, manchmal, daß ich zurückgeblieben bin. Aber ich bin nicht dumm genug, daß man mich ins Irrenhaus sperrt.

    - Wieso hat dein Papa dich an den Haaren gezogen? Sanna kniff ihn so fest in die Nase, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen.
    - Er ist nicht mein Papa. Mein Papa ist tot. Meine Mama auch. Ich wohne bei ihnen, weil ich versteigert wurde.

    Daniel verstand das Wort nicht.
    - Ist er der Bruder von deinem Papa?

    - Er heißt Hermansson und faßt mir unter den Rock, wenn Elna es nicht sieht. Nachts kommt er und begrapscht mich unter der Decke. Ich will es nicht, aber er sagt, ich soll stillhalten. Sonst komme ich ins Irrenhaus und muß den ganzen Tag in einer Badewanne mit kaltem Wasser liegen.

    Daniel verstand die Bedeutung ihrer Worte nicht. Aber er merkte ihrem Gesicht an, daß sie einen Schmerz in sich trug, der an seinen eigenen erinnerte. Er dachte, wenn er erst wieder zu Hause wäre, würde er sich an sie erinnern, und er würde bestimmt in den Nächten von ihr träumen.

    - Ich werde dein Gesicht in die Felswand ritzen, sagte er. Neben der Antilope.
    - Was ist das?

    - Ein Tier.
    Daniel erhob sich aus dem Lehm und verschränkte die Arme über dem Kopf, als wären sie das Gehörn eines Kudubocks.
    Sanna lachte.
    - Das sieht aus wie ein Tier.
    - Die Antilope ist ein Tier.
    - Aber du bist ein Mensch. Obwohl du genauso verrückt bist wie ich.
    Während sie redete, sah sie sich dauernd besorgt um. Plötzlich deutete sie mit dem Finger in die Ferne.
    - Da kommt jemand auf dem Weg. Daniel sah, daß es Edvin war.

    - Ich komme heute abend wieder, sagte Daniel. Ich will dich noch einmal sehen, bevor ich verschwinde.

    - Aber

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