Die rote Antilope
es statt dessen mit Kikos Gesicht, aber auch das mißlang ihm.
Dann versuchte er, die Antilope zu zeichnen. Er stellte sich vor, sein Finger wäre das Hölzchen, das Kiko gewöhnlich benutzte. Aber die beschlagene Fensterscheibe war keine Bergwand. Da packte ihn die Wut. Er mußte sich beherrschen, die Faust nicht durch das Glas zu rammen.
Am nächsten Tag hatte sich der Sturm gelegt. Das Stroh lag nun ganz still auf dem Stalldach. Kurz nach sieben in der Frühe ging Daniel zur Kirche. Die Tür der Sakristei war geschlossen. Er klopfte. Hallen antwortete. Daniel öffnete die Tür, trat ein und machte einen Diener. Hallen saß auf einem Stuhl mitten im Raum. Er forderte Daniel mit einem Nicken auf, näher zu treten.
- Erst hast du ein Ferkel mit einem Schuh totgeschlagen, sagte Hallen. Das habe ich mir erzählen lassen. Und jetzt hast du eine Schlange in den Klingelbeutel getan. All das sagt mir, daß du immer noch ein Wilder bist. Es wird seine Zeit dauern, bis du verstehst, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ich werde Geduld mit dir haben. Aber die Geduld hat ihre Grenzen. Wenn du gehorchst, wird dir nur das Gute angerechnet. Wenn du nicht gehorchst, wirst du bestraft. Hast du verstanden, was ich meine? Daniel nickte.
- Ich will hören, daß du es sagst.
- Ich verstehe.
- Was verstehst du?
- Daß man Schuhe an den Füßen haben muß, wenn Frost ist, daß man Schwein nicht töten darf und daß man Schlange nicht in Kringelbeutel tut.
- Es heißt »ein Schwein«, und es heißt »Klingelbeutel«.
- »Es heißt ein Schwein und es heißt Kringelbeutel.«
- Klingelbeutel.
- Klingelbeutel.
Hallen erhob sich vom Stuhl.
- Laß uns hinausgehen und Jesus anschauen. Wieder standen sie am Altarring. Die Sonne, die sich durch ein Fenster hereintastete, blitzte in einem Auge des angenagelten Mannes auf. Daniel schrak zusammen. Derselbe Schein war im Auge der Antilope zu sehen gewesen.
- Jesus hat sein Leben für dich geopfert, sagte Hallen. Niemand kann ein richtiger Mensch werden, ohne an ihn zu glauben. Aber man muß sich auch zu benehmen wissen.
- Das tut bestimmt weh, sagte Daniel. Hallen sah ihn forschend an.
- Tut weh?
- Wenn man an ein Brett genagelt wird.
- Natürlich tut das weh. Sein Leiden war unermeßlich. Daniel dachte, jetzt könnte er wieder seine Frage stellen.
- Ich will gern lernen, wie man auf dem Wasser geht.
- Kein Mensch kann auf dem Wasser gehen. Jesus war Gottes Sohn. Er konnte es. Aber niemand sonst.
Daniel wußte, daß der Mann, der an seiner Seite stand,
unrecht hatte. Aber er wagte ihm nicht zu widersprechen. Edvins Schlag brannte noch auf seiner Wange.
- Hier sollst du am nächsten Sonntag stehen, sagte Hallen. Vor der versammelten Gemeinde. Du sollst uns alle um Verzeihung bitten, weil du dich gegen diese heilige Kirche vergangen hast, indem du eine Schlange in die Kollekte getan hast. Verstehst du, was ich sage?
Daniel wurde mit Entsetzen klar, was Hallen meinte.
- Werde ich auch an Planken genagelt?
Hallen packte Daniel am Mantelkragen und hob die Hand. Aber er schlug nicht.
- Du wagst es, dich mit dem Erlöser zu vergleichen? Du wagst es, dich mit dem Mann zu vergleichen, der für unser aller Sünden litt?
Hallen ließ ihn los und trat zur Seite, als brächte er es nicht fertig, Daniel allzu nahe zu sein.
- Du bist immer noch ein Wilder. Ich vergaß. Der Weg, den du zu gehen hast, ist lang. Aber wir werden ihn zusammen gehen. Für heute bist du entlassen. Aber ich will, daß du morgen wiederkommst.
Daniel blieb regungslos stehen, bis Hallen hinter dem großen Altarbild verschwunden war. Dann stürzte er aus der Kirche. Er rannte den ganzen Weg nach Hause und war ganz in Schweiß gebadet, als er auf dem Hügel hinter dem Haus ankam. Er wußte, daß es noch fünf Tage bis zum nächsten Sonntag waren. Dann würde man ihn an Planken nageln. Ehe es dazu kam, mußte er herausfinden, wo das Meer lag. Er mußte weglaufen, und auch wenn er immer noch nicht auf dem Wasser gehen konnte, mußte er sich versteckt halten, bis er es gelernt hatte. Er rief laut nach Kiko und Be. Aber es kam keine andere Antwort als das rastlose Krächzen der schwarzen Vögel.
Er sank zu Boden und kauerte sich zusammen, den Kopf zwischen den Knien. Der lange Spurt hatte ihn ermüdet. Es war kalt, und er fühlte sich sehr erschöpft.
Als er aufwachte, stand Sanna neben ihm.
- Ich habe gehört, daß du gerufen hast, sagte sie. Warum sitzt du hier und schläfst? Du könntest
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