Die rote Antilope
den geschlossenen Lidern sah.
8
Das Schiff hieß »Chansonette« und kam direkt aus Goa auf der indischen Halbinsel. Aus dem Laderaum stiegen satte Düfte von geheimnisvollen Gewürzen auf, wie Bengler sie noch nie gerochen hatte. Als er seinen ersten Spaziergang an Deck machte, bemerkte er sonderbare Eisengriffe, die an den Decksplanken festgeschraubt waren. Erst brachte er sie nur mit vagen Erinnerungsbildern in Verbindung. Dann fiel ihm ein, daß er sie einmal in einem voluminösen englischen illustrierten Werk gesehen hatte, das im Detail die Instrumente und Geräte abbildete, mit denen die Sklaven während der Überfahrt nach Westindien für gewöhnlich gefangengehalten wurden. Er befand sich also auf einem ehemaligen Sklavenschiff. Das bereitete ihm ein heftiges Unbehagen. Das sauber geschrubbte Deck füllte sich plötzlich mit Blut, das stärker roch als die Gewürze, die unten in den Laderäumen in Säcken und Tonnen lagerten. Er sah Daniel an, den er an einem Strick führte. Damit er sich nicht mit einem raschen und unerwarteten Ruck losreißen konnte, was er in unregelmäßigen Abständen versuchte, hatte Bengler ein Geschirr konstruiert, das er Daniel anlegte. An einer Öse aus kräftigem Segelgarn hatte er den Strick befestigt, den er bald in der Hand hielt, bald an seinem Gürtel festgeknotet trug. Dem Kapitän hatte er erklärt, Daniel sei sein Adoptivsohn und würde ihn nach Europa begleiten. Michaux hatte keine Fragen gestellt, nicht den kleinsten Anflug von Neugier gezeigt. Bengler hatte ihn gebeten, die Besatzung darüber aufzuklären, daß Daniels unberechenbare Natur es notwendig machte, ihn anzuschirren. Es sei also eine Vorsichtsmaßnahme, kein Ausdruck von Grausamkeit. Michaux ließ einen seiner Steuermänner kommen, einen Holländer namens Jean, und beauftragte ihn, die Besatzung zu informieren.
Sie hatten eine Kabine achteraus bekommen, gleich neben der Kajüte des Kapitäns. Nach einem heftigen Anfall von Verzweiflung, als er vergeblich versucht hatte, sich loszureißen, war Daniel in Apathie versunken. Um ihn zu beruhigen, hatte Bengler eine dünne Schicht Sand auf den Boden der Kajüte gestreut. Dann hatte er ihm zu erklären versucht, daß das Schiff groß und sicher sei. Das Meer sei kein Untier, das leichte Schaukeln des Schiffskörpers sei nichts anderes als die Bewegung, die Daniel gespürt haben mußte, als seine Mutter ihn auf dem Rücken herumtrug.
Ein Schiffsjunge, knapp fünfzehn Jahre alt, war von Michaux beauftragt worden, für die fünf Passagiere zu sorgen, die sich an Bord befanden. Unter den Mitreisenden waren ein älterer einsamer Mann, dessen Gesicht von Pockennarben gezeichnet war, und eine sehr junge Dame, die sofort die lüsternen Blicke der Besatzung auf sich zog. Außer daß der Mann Stephen Hartlefield hieß, wußte Bengler nichts über ihn und seinen Lebensweg. Kapitän Michaux hatte Bengler in knappen Worten davon in Kenntnis gesetzt, daß der pockennarbige Mann ein an Bauchkrebs erkrankter Engländer sei, der jetzt nach Devonshire heimkehren wolle, um dort zu sterben.
- Er ist nach Afrika gekommen, als er zwei Jahre alt war, sagte Michaux. Trotzdem spricht er jetzt davon, nach Hause zu fahren und in einem Land zu sterben, an das er keine Erinnerungen hat. Die Engländer sind sehr eigenartige Geschöpfe.
Die junge Dame, die Sara Dubois hieß, war bei einer ihrer Schwestern zu Besuch gewesen, die auf einem großen Hof außerhalb von Kapstadt lebte. Sie stammte aus einer vermögenden Kaufmannsfamilie in Rouen und reiste in Begleitung einer Kammerzofe.
Der Schiffsjunge hieß Raul. Er war sommersprossig, schieläugig und wachsam. Bengler hatte bemerkt, daß Daniel ihn einen kurzen Moment lang betrachtet, seinen Blick eingefangen hatte.
Raul fragte, wieso Daniel angebunden sei.
- Er könnte sich sonst über Bord werfen, hatte Bengler geantwortet und sich mit seiner Antwort unwohl gefühlt. Etwas in ihm schämte sich dafür, einen Mitmenschen angebunden halten zu müssen. Einen Menschen, den er als seinen Sohn betrachtete.
- Soll er immer angebunden bleiben? hatte Raul gefragt.
Statt einer Antwort hatte Bengler einen der Steuermänner gerufen und sich über die vorwitzige Neugier des Schiffsjungen beschwert. Der Steuermann hatte ihm zwei Ohrfeigen gegeben.
Raul hatte nicht geweint, obwohl die Schläge sehr hart waren.
Sie legten am Abend aus Kapstadt ab. Schwere Regenwolken zogen über dem Tafelberg heran. Bengler hatte beschlossen, Daniel in der
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