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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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herausgerannt kommen würde, um sich schlimmstenfalls ins Meer zu stürzen.

    Nach dreißig Minuten hatte sich noch immer nichts gerührt.
    Als Bengler in die Kajüte kam, lag die Schere auf dem Tisch. Daniel hockte am Boden und zeichnete mit den Fingern Figuren in den Sand, der nach wie vor den Boden bedeckte. Sofort beschloß Bengler, dem Jungen das Geschirr abzunehmen. Das Gefühl, einen Übergriff begangen zu haben, bereitete ihm wieder Unbehagen. Aber er registrierte auch einen Anflug von etwas, das nichts anderes sein konnte als Eitelkeit. Er wollte Wilhelm Andersson nicht recht behalten lassen, der behauptet hatte, es sei falsch gewesen, den Jungen mitzunehmen. Er wollte seine guten Vorsätze nicht in Frage gestellt sehen, auch nicht von einem Mann, dem er nie wieder begegnen würde. Einem Mann, dessen Leben in einer entlegenen Handelsstation in der Kalahariwüste sich auf nichts als Heuchelei gründete.

    Bengler ging an Deck. Die »Chansonette« segelte mit leichtem Rückenwind dahin. Die Segel waren gebläht. Er erinnerte sich, wie es gewesen war, als er auf Robertsons schwarzem Schoner nach Afrika kam. Daß er damals Masten und Segel in sich trug. Er stellte sich an die Reling und sah hinunter ins Wasser. Die Segel bewegten sich wie Vogelschwingen über seinem Kopf, ein Spiel mit Sonne und Schatten.
    Zum ersten Mal stellte er sich ernsthaft die Frage, was er eigentlich tun sollte, wenn er nach Schweden zurückgekehrt wäre. Der Käfer mit den eigenartigen Fühlern lag in dem Glas. Außerdem war Daniel da. In zwei großen Lederkoffern lagen dreihundertvierzig Insekten, die er gesammelt, präpariert und nach Linnés System geordnet hatte. Doch das beantwortete die Frage nicht. Was sollte er eigentlich anfangen? Der Gedanke, nach Lund zurückzukehren, war ihm nicht nur zuwider, er war ausgeschlossen. Es verlockte ihn, Matilda wiederzusehen. Aber zugleich erschreckte es ihn, da er überzeugt war, sie hätte ihn schon vergessen, ihre Liebesstunden vergessen, die nie leidenschaftlich gewesen waren, mit dem Portwein hinterher. Er wußte nicht einmal, ob sie noch lebte. Vielleicht war sie ebenfalls unter dem Messer von Professor Enander gelandet? Er wußte es nicht und gestand sich ein, daß er es auch nicht wissen wollte.

    Das einzige, wovon er mit Sicherheit wußte, daß es ihn erwartete, war die notwendige Reise nach Hovmantorp, um bestätigt zu bekommen, daß der Vater tatsächlich in jener Nacht gestorben war, in der er die Vorahnung gehabt hatte. Aber was dann?

    Er suchte die Antwort im Meer, das am Kiel der » Chansonette« schäumte.

    Von ihm unbemerkt, hatte sich ein Matrose an seine Seite gestellt. Er kratzte seine Pfeife aus, spuckte ins Meer und sah Bengler aus zusammengekniffenen Augen an. Seine Gesichtshaut war ledrig, die Nase breit, der Mund trocken, mit aufgeplatzten Lippen. Und die Augen machte er ganz schmal.
    - Was wollen Sie mit dem verdammten Balg anfangen? fragte der Matrose.

    Er hatte einen norwegischen Akzent. Bengler hatte einmal mit einem jungen Mann aus Røros verkehrt, der in Lund Theologie studierte. Ihm hatte die Sprache gefallen, er hatte gelernt, sie nachzuahmen.
    Jetzt dachte er, er sollte Nachsicht haben mit der Frage, die eher aus den zusammengekniffenen Augen gekommen war als von den aufgeplatzten Lippen.

    - Wollen Sie den Jungen umbringen?
    Bengler dachte, daß er sich an den Kapitän wenden könnte. Als zahlender Passagier hatte er es nicht nötig, mit der Besatzung zu verkehren, es sei denn zu seinen eigenen Bedingungen.

    - Ich wüßte nicht, daß Sie das irgend etwas anginge. Die Augen des Matrosen blickten starr. Bengler beschlich das Gefühl, er stünde vor einem Reptil, das jeden Moment zuschnappen könnte. So wie damals, als Daniel sich in seiner Nase verbissen hatte.

    - Mir gefällt das nicht, sagte der Matrose. Afrika ist ein verfluchter Kontinent. Da lassen wir die Peitschen knallen, wir schneiden Leuten, die nicht in dem von uns vorgeschriebenen Takt arbeiten, Ohren und Hände ab. Und jetzt fangen wir an, ihre Kinder mit nach Hause zu schleppen, obwohl die Sklaverei verboten ist.
    Bengler fuhr auf.

    - Er hat keine Eltern. Ich habe ihn in meine Obhut genommen. Was ist schlecht daran, einem Menschen beim Überleben zu helfen?

    - Halten Sie ihn deswegen angeleint wie einen Hund? Haben Sie ihm beigebracht zu bellen?

    Bengler schob sich an der Reling entlang. Für einen kurzen Moment befiel ihn Schwindel. Die Sonne war plötzlich sengend. Er wünschte, er

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