Die rote Antilope
hätte seinen Revolver behalten. Dann hätte er den verdammten Norweger erschossen. Der Matrose blieb stehen. Die Augen waren zusammengekniffen. Er hatte einen gestreiften Pullover an, die Hosen waren kurz unter den Knien abgeschnitten und die Schuhe an den Hacken heruntergetreten.
- Die Zeiten werden sich ändern, sagte der Matrose und rückte näher.
- Ich habe ein Recht darauf, nicht gestört zu werden.
- Lassen Sie mich raten. Sie haben ihn gekauft. Vielleicht, um ihn in einem Variete vorzuführen? Oder auf Märkten. Ein Hottentotte. Vielleicht wollen Sie ihn dazu bringen, daß er sich aufführt wie ein Affe? Da steckt Geld drin.
Bengler blieb ihm die Antwort schuldig. Er dachte, der Matrose sei ein Aufrührer. Ein Steinewerfer, ein Gottesstürzer. Vielleicht gehörte er zu der neuen Bewegung, über die sie in den langen Nächten in Lund diskutiert hatten? Ein Anarchist? Der zwar nicht Bomben warf, aber mit derselben Kraft Worte gegen ihn schleuderte?
Der Matrose steckte seine Pfeife an.
- Eines Tages wird so einer wie Sie undenkbar sein. Menschen sollen frei leben. Nicht an der Leine gehen wie Schoßhunde.
Während der restlichen Reise nach Le Havre wechselte Bengler kein Wort mehr mit dem Matrosen. Er fand heraus, daß er Christiansen hieß und bei den anderen überwiegend als ein ebenso tüchtiger wie freundlicher Mann galt. Außerdem hatte er die Eigenheit, daß er nie Alkohol trank. Diese Auskünfte wurden von Raul eingeholt, und Bengler hatte rasch festgestellt, daß er ein zuverlässiger Berichterstatter war.
Als er Daniel das Geschirr abnahm, erwartete er einen Freudenausbruch. Einen Ausdruck von Befreiung. Aber Daniels einzige Reaktion war, daß er sofort in die Hängematte kroch und einschlief. Wie gewöhnlich hielt er ein paar Sandkörner in der geballten Hand. Bengler war fassungslos. Wenn er sich nun selber in Daniel sah, was konnte er dann aus der Tatsache ableiten, daß der Junge einschlief?
Ein großer Schmerz hat ihn verlassen, dachte er. Auszuruhen, wenn eine Qual vorüber war, seien es Schmerzen in einem Zahn, eine Kolik oder Kopfweh. Das ist es, was er tut, er schläft sich aus nach dem Schmerz, der ihn verlassen hat.
Zwei Tage vor ihrer Ankunft in Le Havre starb der Mann, der Krebs hatte und nach Devonshire wollte. Da der Kapitän sich um die Gewürze sorgte und gerade an diesem Tag Flaute herrschte, wurde eine Seebestattung angeordnet. Bengler war sehr niedergeschlagen bei dem Gedanken, daß der Mann nie mehr nach Hause zurückkehren würde. Während der Beerdigungszeremonie hielt er Daniel in der Kabine eingesperrt.
Neben den regelmäßigen Spaziergängen hatte Bengler Daniel jeden Tag unterrichtet. Es gab zwei Themen. Zum einen sollte er wenn irgend möglich Schwedisch lernen. Zum anderen sollte er sich angewöhnen, in Schuhen zu gehen. Anfangs hatte Daniel Spaß an den Schuhen gehabt. Aber mit der Zeit hatte er sie satt bekommen. Bei einer Gelegenheit hatte er einen der Schuhe, eine n einfachen Holzschuh, über die Reling geworfen. Bengler war wütend geworden, hatte sich aber beherrschen können. Er hatte von einem Zimmermann ein Paar abgetragene kleine Holzschuhe bekommen und wieder von vorn angefangen. Daniel zeigte nicht das geringste Interesse. Aber er warf die Schuhe nicht mehr über Bord.
Mit der Sprache hingegen ging es überhaupt nicht voran. Bengler stellte fest, daß Daniel sich schlichtweg weigerte, die Worte anzunehmen. Dieser Weigerung hatte er nichts entgegenzusetzen.
Als sie in Le Havre ankamen, an einem nebligen Morgen Anfang August, stellte Bengler eine wachsende Unruhe bei sich fest. Warum zum Teufel hatte er sich von einer spontanen Eingebung leiten lassen und diesen Jungen mitgeschleppt?
Anfangs hatte er Angst gehabt, der Junge würde über Bord springen. Jetzt hatte er Angst, er selbst würde den Jungen über die Reling werfen.
Das letzte, was er sah, als er an Land ging, war der Matrose, der ihn aus zusammengekniffenen Augen ansah. Sein Blick war genauso kalt wie der Nebel.
Mitte August schifften sich Bengler und David auf einem
Kohlenschlepper nach Simrishamn ein. Bengler durfte umsonst mitfahren, wenn er im Gegenzug allerlei Aufgaben an Bord übernahm. Der Kahn war klapprig und roch schlecht. Bengler fürchtete während der ganzen Reise, sie würden nie ankommen.
Am 2. September legte das Schiff in Simrishamn an. Da war Bengler knapp eineinhalb Jahre aus Schweden weg gewesen.
Als er über die Landebrücke ging, bemerkte er, daß die
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