Die rote Antilope
Kajüte zu halten, während sie ausliefen, und ihn erst herauszulassen, wenn sie sich auf offener See befänden. Das Meer war an diesem Abend sehr ruhig. Träge Dünungen trugen das Schiff vom afrikanischen Kontinent fort. Daniel schlief in der Hängematte. Den Strick hatte Bengler an einem der Dachbalken festgeknotet. Obwohl die Decke niedrig war, würde Daniel nicht imstande sein, den Balken zu erreichen und den Knoten zu lösen. Außerdem hatte Bengler kontrolliert, daß es in der Kabine keine scharfen Gegenstände gab, die er benutzen könnte, um den Strick durchzuschneiden.
Als Bengler eine Decke über Daniel breitete, hatte er entdeckt, daß er in einer Hand, die fest geballt war, Sand hielt, den er vom Boden aufgekratzt hatte.
An diesem ersten Abend hatte Bengler angefangen, für Daniel einen Matrosenanzug zu nähen. Den Stoff hatte er in einem Geschäft für Schiffsbedarf besorgt, das Michaux ihm genannt hatte. Da sein gesamtes Geld für die Überfahrt draufgegangen war, hatte er den Stoff gegen den Revolver eingetauscht, den er einmal in Kopenhagen gekauft hatte. Es hatte außerdem für Knöpfe, Nadel und Faden gereicht. Vom Segelmacher, der mit an Bord war, hatte er eine Schere geborgt. Er breitete den Stoff auf dem Tisch in der Kabine aus und überlegte lange, wie man eigentlich ein Paar Hosen und eine Matrosenbluse anfertigte. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er den Mut fand zu schneiden. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er etwas Derartiges fabriziert. Die Arbeit ging nur langsam voran, und er stach sich an der Schere und der Nadel, die er benutzte, um die einzelnen Teile zu vernähen. Als er mitten in der Nacht neben Daniel in die Hängematte kroch, hatte er die Schere in einem Zwischenraum zwischen zwei Balken oben an der Decke versteckt.
Bevor er einschlief, lag er da und lauschte auf Daniels Atem. Die Atemzüge waren unruhig und unregelmäßig. Er prüfte Daniels Stirn, entdeckte aber kein Anzeichen von Fieber. Er träumt, dachte er. Irgendwann wird er mir erzählen können, was er damals eigentlich gedacht hat, als wir Kapstadt verließen.
Die Düfte aus den Laderäumen waren betäubend. In der Ferne hörte er ein paar Matrosen auflachen. Dann war es wieder still. Nur vereinzelte Schritte an Deck und das Schiff, das gegen die Dünungen anknarrte.
Die Überfahrt nach Le Havre dauerte gut einen Monat. Zweimal hatten sie Sturm, mit sechs Tagen Flaute dazwischen. Der afrikanische Kontinent erschien hin und wieder wie eine rasch entschwindende Luftspiegelung am östlichen Horizont. Die Hitze hielt unvermindert an. Der Kapitän machte sich Sorgen um die Gewürzladung und war mehrmals unter Deck, um zu kontrollieren, daß nichts feucht wurde.
Bereits am ersten Tag hatte Bengler erkannt, daß Daniel feste Gewohnheiten brauchte. Nachdem sie das Frühs tück verzehrt hatten, das Raul ihnen brachte, hatte er angefangen, Spaziergänge an Deck zu machen. Der Mann aus Devonshire zeigte sich äußerst selten. Nach Auskunft von Raul hatte er heftige Schmerzen und nahm kaum etwas anderes zu sich als starke Medikamente, die bewirkten, daß er sich ständig in einer Art Dämmerzustand befand. Die Kaufmannstochter aus Rouen spielte mit ihrer Zofe Federball, wenn das Wetter es erlaubte. Bengler war aufgefallen, daß das Schiff dann gleich ganz anders zu atmen begann. Die Besatzung hoffte andächtig darauf, daß die Röcke der Mädchen hochfliegen und vielleicht ein Stück Bein oder sogar einen Zipfel ihrer Unterwäsche preisgeben würden. Während der Spaziergänge führte Bengler ununterbrochen Gespräche mit Daniel. Er zeigte und erklärte und wechselte zwischen Deutsch und Schwedisch hin und her. Nach einer Weile glaubte er zu merken, daß Daniels Anspannung allmählich wich. Noch immer befand sich Daniel woanders, bei Eltern, die noch lebten, weit weg von dem Verschlag bei Andersson und dem Schiff, das sich hob und senkte. Aber er kommt näher, dachte Bengler. Je weiter weg von Afrika, desto näher bei mir.
Bengler wollte Daniel unbedingt klarmachen, daß der Strick nur eine vorübergehende Lösung eines hoffentlich ebenso vorübergehenden Problems war. Die Strickfrage ließ sich nur lösen, indem Vertrauen geschaffen wurde. Schon am zweiten Tag an Bord ließ Bengler die Schere, die er vom Segelmacher entliehen hatte, auf dem Tisch liegen und Daniel allein damit in der Kabine. Er selbst stellte sich draußen vor die geschlossene Tür, darauf gefaßt, daß Daniel jetzt den Strick kappen und
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