Die rote Antilope
Es weckt unangenehme Erinnerungen, antwortete Bengler vage.
Andersson fragte nicht weiter.
Während sie redeten, stand der Junge regungslos da. Bengler begriff, daß er auf etwas Entsetzliches gefaßt war. Daß man ihn schlagen würde, vielleicht sogar töten.
- Hat er gesehen, was mit seinen Eltern geschehen ist? Wieder zuckte Andersson mit den Schultern. Er war zum Salz zurückgekehrt. Geijer balancierte hoch oben auf einer Leiter.
- Schon möglich. Ich habe nicht weiter gefragt. Warum sollte man etwas herausfinden wollen, von dem man froh ist, es nicht zu wissen? Ich habe die Deutschen diese Leute jagen gesehen, wie man sonst Ratten jagt.
Bengler legte dem Jungen die Hand auf den Kopf. Der ganze Körper war angespannt. Er hielt die Augen weiterhin geschlossen.
In diesem Moment kam Bengler die Erleuchtung.
Der Junge sollte Daniel heißen. Daniel, der in der Löwengrube gesessen hatte. Das war ein passender Name.
- Daniel, sagte Bengler. Daniel Bengler. Das klingt wie ein Jude. Aber da du schwarz bist, bist du kein Jude. Jetzt hast du einen Namen.
- Er ist völlig verlaust. Außerdem ist er unterernährt. Mästen Sie ihn und waschen Sie ihn. Sonst ist er tot, bevor Sie in Kapstadt ankommen. Bevor er überhaupt weiß, daß er einen christlichen Namen erhalten hat.
An diesem Abend verbrannte Bengler die Kleider des Jungen. Er schrubbte ihn in einer Holzwanne und zog ihm eins von seinen eigenen Hemden an, das ihm bis zu den Knöcheln reichte. Benikkolua blieb die ganze Zeit in der Nähe. Sie hätte den Jungen gern gewaschen. Aber Bengler bestand darauf, es selber zu tun. Auf diese Weise würde er dem Jungen vielleicht etwas von seiner stummen Angst nehmen. Bisher hatte er kein einziges Wort gesagt. Sein Mund war fest geschlossen. Auch als Bengler ihm Essen geben wollte, machte er ihn nicht auf. Er glaubt, sein Leben würde davonfliegen, wenn er den Mund aufmacht, dachte Bengler.
Er bat Benikkolua, es zu versuchen. Aber der Junge machte den Mund nicht auf.
Andersson stand daneben und beobachtete alles.
- Nehmen Sie eine Zange, sagte er. Brechen sie ihm den Mund auf. Ich verstehe dieses Getue nicht. Wenn man Leben retten will, muß man hart zupacken.
Bengler antwortete nicht. Es würde eine Erleic hterung sein, Andersson loszuwerden. Trotz all der Hilfe, die er von ihm bekommen hatte, wurde Bengler bewußt, daß er ihn schon bei ihrer ersten Begegnung nicht gemocht hatte, als er gezwungen gewesen war, Anderssons Rückengeschwür aufzuschneiden. Er dachte, Andersson sei wie die Deutschen oder die Portugiesen oder die Engländer. Die, welche die Schwarzen quälten, sie wie Ratten jagten. Der Unterschied war lediglich, daß Andersson dieselbe Brutalität mit Diskretion ausübte. Was machte es eigentlich für einen Unterschied, ob man Menschen in Eisen und Ketten legte oder sie in eine unbegreifliche Volkstracht steckte? Er dachte auch, er sollte Andersson dies alles sagen. Ihm zum Abschied zeigen, daß er ihn durchschaut hatte. Aber er wußte, daß ihm der Mut fehlte. Andersson war zu stark für ihn. Im Vergleich zu ihm gehörte Bengler zu einer unbedeutenden Dynastie, einer, die niemals die Macht über die Wüste erlangen würde.
In dieser Nacht mußte Benikkolua draußen vor der Tür schlafen. Bengler ließ den Jungen allein auf der Matratze liegen und stellte den Napf mit Essen neben ihn. Dann löschte er die Lampe und legte sich in seine Hängematte. Im Gegensatz zu Benikkolua, deren Atem er immer hatte hören können, war der Junge vollkommen still. Eine plötzliche Unruhe ließ ihn auffahren. Er zündete die Lampe an. Der Junge war wach. Seine Kiefer waren noch immer fest zusammengebissen. Bengler verriegelte die Tür und kehrte in die Hängematte zurück.
Am Morgen, als er aufwachte, hatte der Junge alles aufgegessen. Jetzt schlief er. Sein Mund war leicht geöffnet.
Drei Tage später traf Bengler die letzten Vorkehrungen für den Aufbruch. Er hatte seine Habe auf dem Wagen verstaut und festgezurrt. Noch immer hatte der Junge kein einziges Wort gesagt. Er saß stumm auf dem Boden oder im Schatten und hielt die Augen geschlossen. Hin und wieder strich ihm Bengler über den Kopf. Noch immer war der Körper sehr angespannt.
Bengler hatte Benikkolua zu erklären versucht, daß er jetzt abreisen würde. Ob sie es verstand oder nicht, konnte er nicht beurteilen. Wie sollte er ihr erklären, was ein Meer war? Wie die weite Sandwüste, aber aus einer Art Regenwasser? Was war eigentlich eine
Weitere Kostenlose Bücher