Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
Furcht, die er empfand, von Daniel geteilt wurde.
    Sie waren sich nähergekommen.

    9

    Am selben Tag, an dem sie angekommen waren, ereignete sich etwas Bemerkenswertes. Bengler wertete es als gutes Zeichen. Zum ersten Mal meinte er, ernstlich etwas von all den unklaren und oft widersprüchlichen Signalen deuten zu können, die Daniel aussandte.

    Vom Hafen aus waren sie geradewegs über den lehmigen Hafenplatz gegangen und hatten sich in einem kleinen Gasthof einquartiert, der in einer der Gassen lag, welche zum Wasser hinunterführten. Der Wirt, der betrunken war, hatte mit Bestürzung auf Daniel reagiert, der an Benglers Seite stand. Vielleicht war es ein kleines, schwarz gefärbtes Monster, das seinem eigenen delirierenden Hirn entschlüpft war? Doch der Mann, der neben dem Jungen stand, sprach gepflegt. Obwohl er aus Kapstadt kam, schien er von keiner tropischen Krankheit befallen zu sein, vor der er sich fürchten müßte. Der Wirt hatte ihnen ein Zimmer zum Hof zugewiesen. Das Zimmer war sehr dunkel und eng. Es roch nach Schimmel, und Bengler hatte in seinem Gedächtnis geforscht. Irgendwann hatte er genau denselben Geruch schon einmal in der Nase gehabt. Dann erinnerte er sich, daß es der Pelz war, den ein jüdischer Handlungsreisender, der Linimente verkaufte, getragen hatte, als er seine letzte Reise nach Hovmantorp unternahm. Er öffnete das Fenster, um zu lüften. Es war Frühherbst, kurz nach einem kräftigen Regenguß. Aus dem Hof stieg ein Geruch von Nässe auf. Daniel saß in seinem Matrosenanzug regungslos auf seinem Stuhl. Die Holzschuhe hatte er abgestreift.

    Bengler schenkte sich ein Glas Portwein ein, um sich selber für die Zukunft Mut zu machen und um zu feiern, daß der Kohlenschlepper auf der Reise von Rouen nicht untergegangen war. Von draußen hörte man ein zischendes Geräusch und Kinder, die lachten. Er saß mit dem Glas in der Hand auf dem knarrenden Bett, als Daniel plötzlich aufstand und zum Fenster ging. Bengler war schon halb auf dem Sprung, weil er fürchtete, Daniel würde sich hinausstürzen. Aber der Junge ging ganz langsam, fast schleichend, als wäre er auf der Jagd und nähere sich vorsichtig einer Beute. Bengler sah, wie er am Fenster stehenblieb, halb hinter der Gardine versteckt, und beobachtete, was auf dem Hof geschah. Er stand da und rührte sich nicht. Behutsam erhob sich Bengler vom Bett und stellte sich neben ihn.
    Unten auf dem Hof hüpften zwei Mädchen seil. Sie waren ungefähr im gleichen Alter wie Daniel. Eins von den Mädchen war dick, das andere sehr schmal. Sie hatten ein Seil, vielleicht eine Schot von einem Segelboot, die sie in der passenden Länge abgeschnitten hatten. Sie wechselten sich beim Hüpfen ab, lachten, wenn sie stolperten, und fingen dann wieder von vorn an. Lange stand Daniel ganz still, wie erstarrt. Bengler beobachtete ihn und versuchte sein aufmerksames Betrachten des Spiels auf dem Hof zu deuten.

    Dann drehte sich Daniel zu ihm um, sah ihm direkt in die Augen, und in seinem Gesicht sprang ein Lächeln hervor.

    Es war das erste Mal, daß Bengler seinen Adoptivsohn lächeln sah. Ein Lächeln, das kein Grinsen war, keine aufgesetzte Maske, sondern ein Lächeln, das von innen kam. Für Bengler war es, als wäre ein lange erwartetes Wunder endlich geschehen. Jetzt hatte Daniel endlich die unsichtbaren Trosse gekappt, die ihn an den Verschlag in Anderssons Handelsstation banden. Trosse, die ihn an Erinnerungen fesselten, von denen Bengler nichts wußte, außer daß Blut und Grauen darin vorkamen, tote Menschen, zerhackte Gliedmaßen, verzweifelte Schreie und danach die Stille, in der nur der Sand zu hören war, der in der Wüste rieselte.
    Sie gingen hinunter auf den Hof. Die Mädchen hörten sofort mit dem Seilhüpfen auf, als sie Daniel erblickten. Bengler wurde klar, daß sie noch nie einen schwarzen Menschen gesehen hatten. Er wußte, daß es eine Schuhcreme gab, deren Deckel ein Mohr mit dicken Lippen und einem Grinsen im Gesicht schmückte. Aber jetzt entdeckten die kleinen Mädchen, daß es den schwarzen Menschen in Wirklichkeit gab. Auf diesem schmutzigen Hinterhof dämmerte es Bengler, daß er gerade Zeuge von etwas wurde, das vielleicht eine neue Aufgabe für ihn bereit hielt. Den unaufgeklärten Schweden zu zeigen, daß es tatsächlich Menschen gab, die schwarz waren. Lebende Menschen, keine Dosendeckel.
    Sogleich fing er ein Gespräch mit den Mädchen an. Sie waren ärmlich gekleidet, und vom emsigen Hüpfen rochen sie stark

Weitere Kostenlose Bücher