Die rote Antilope
hatte diese Geschichte sehr ausführlich erzählt und immerzu gefragt, ob Molo alles verstanden hätte. Er hatte dieselbe Sache mehrmals wiederholt und auf verschiedene Weise von den Göttern erzählt, als wäre er ein Vogel gewesen, der alles von oben gesehen hatte, oder eine Schlange, die sich lautlos zwischen den Beinen der Götter ringelte. Molo hatte verstanden. Zwischen diesen Felsen hatte alles angefangen. Mit der Zeit hatten die Götter von den Menschen genug bekommen, sie sich selbst überlassen und waren zu anderen Bergen weitergezogen. Aber damit die Götter nicht ungeduldig würden und ihnen das Essen wegnähmen oder den Regen, hatten die Menschen ihre Bilder in die Felsen geritzt.
Kiko hatte an einer Antilope gearbeitet, als sie das letzte Mal zusammen auf dem Berg waren. Der Alte, der im Jahr zuvor gestorben war, Anamet, hatte angefangen, die Antilope einzumeißeln. Aber als er sich dann immer mehr zurückzog, sich langsam aus dem Leben verabschiedete und schließlich aufgehört hatte zu atmen, war Kiko dazu ausersehen worden, sein Werk fortzusetzen. Ganz so geschickt wie Anamet war er nicht, hätte es auch nie werden können. Anamet hatte die besondere Fähigkeit besessen, Tiere so wiederzugeben, daß es schien, als könnten sie sich jederzeit von den Felsen lösen und zwischen den Sanddünen verschwinden. Bei diesem letzten Mal hatte Kiko den Tierkörper mit Farbe versehen. Die Antilope befand sich mitten im Sprung. Anamet hatte das Auge sehr groß gemacht, und Kiko hatte lange überlegt, ob er dafür das Rot verwenden sollte, das ein zerquetschter Käfer lieferte, oder das Gelb vom Saft eines Strauchs, der in der Nähe des Berges wuchs. Kiko war manchmal sehr wortkarg, wenn er an der Antilope arbeitete. Er war der am wenigsten geschwätzige von allen in der Gruppe, den sieben Familien, die miteinander lebten und gemeinsam umherzogen. Im Gegensatz zu Be, die immer schwatzte und lachte, konnte Kiko mitunter so lange schweigen, daß sie überlegten, ob er krank geworden sei. Molo wußte auch, daß es nur bei bestimmten Gelegenheiten möglich war, Kiko Fragen zu stellen. Dann antwortete er. Aber wenn Molo den falschen Zeitpunkt wählte, konnte Kiko müde werden, vielleicht sogar ärgerlich. Aber dieses letzte Mal, als sie zusammen zu dem Berg wanderten, war Kiko guter Laune gewesen. Molo hatte gewußt, daß ein guter Tag bevorstand, an dem er alle Fragen würde stellen können, die ihn beschäftigten.
Sie waren in der ersten Morgendämmerung aufgebrochen. Als sie den Berg und die Felsspalte erreichten, wo die Antilope eingemeißelt war, fielen die ersten Sonnenstrahlen darauf. Es sah aus, als stünde die Antilope in Flammen.
- Anamet war sehr geschickt, sagte Kiko. Er wußte nicht nur, wie seine Hände die Antilope formen sollten, er hat auch die Stelle auf dem Felsen mit Bedacht für sie gewählt.
- Was heißt geschickt sein?
Kiko antwortete nicht. Molo wußte, daß auch das eine Antwort war. Wenn Kiko nichts sagte, bedeutete es, daß es auf die Frage keine Antwort gab.
Kiko entschied sich dafür, das Auge der Antilope rot zu färben. In einem kleinen Lederbeutel hatte er ein paar von den Käfern mitgebracht, aus denen die rote Farbe gewonnen wurde. Er schüttete sie auf die Erde. Die Käfer versuchten wegzukriechen. Er zermalmte sie mit einem Stein und fing an, die rote Farbe aus dem Panzer zu pressen. Dann füllte er mit einem Hölzchen sorgfältig die Rillen aus, die Anamet mit seinem kleinen Meißel in die Felswand gekerbt hatte. Molo betrachtete seinen Vater. Die Strahlen der Sonne wanderten langsam abwärts. Das Licht kam jetzt von unten. Das Auge der Antilope glänzte.
- Wo sind die Götter? Kiko lachte.
- Drinnen im Felsen, antwortete er. Ihre Stimmen sind das Herz, das im Körper der Antilope schlägt.
- Ich versuche, in den Sand zu zeichnen. Antilopen, Zebras. Aber es wird nicht gut.
- Du bist zu ungeduldig. Du bist noch ein Kind. Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, an dem du jeweils nur in eine Richtung schaust. Dann wird es dir auch gelingen, eine Antilope zu zeichnen.
Kiko arbeitete den ganzen Tag. Erst als die Dunkelheit hereinbrach, legte er das rotge färbte Hölzchen weg.
- Bald ist sie fertig, sagte er. Eines Tages, wenn du älter bist, werden die Farben verblaßt sein. Dann kannst du wieder herkommen und sie auffrischen. Dann ist es an dir, die Antilope wieder lebendig zu machen.
Danach kehrten sie ins Lager zurück. Aus der Ferne sahen sie die Feuer und rochen
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