Die rote Antilope
er, es wäre ein Tier. Dann sah er, daß es ein Mensch war. Eine Frau. Und sie rannte. Er hatte sie noch nie gesehen. Sie war unterwegs zu dem Hügel. Er zog sich zurück und versteckte sich hinter ein paar Büschen.
Als sie oben auf dem Hügel ankam, stellte er fest, daß es ein Mädchen war. Er schätzte, daß es älter war als die Mädchen, die er auf dem Hinterhof in Simrishamn beim Seilhüpfen gesehen hatte. Regungslos lag er hinter den Sträuchern und betrachtete sie. Ihre Kleider waren verschmutzt, und sie hatte Lehmklumpen in den hellen Haaren. Daniel fragte sich, was sie eigentlich trieb. Sie hockte sich hin und stocherte mit den Fingern im Lehm. Nach einer Weile begriff er, daß sie nach etwas suchte. Während sie grub, murmelte sie, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagte. Er merkte, daß sie ungeduldig war. Das erste Loch, das sie gescharrt hatte, verwarf sie wieder. Dann legte sie das Ohr an die Erde und kroch herum, bis sie wieder innehielt und zu graben anfing.
Daniel nieste.
Es kam so plötzlich, daß es ihm nicht gelang, den Laut zu ersticken. Das Mädchen fuhr zusammen und entdeckte ihn sogleich hinter dem Gebüsch. Sie wird schreien, dachte er. Es wird genauso enden wie mit dem Schwein. Edvin und Alma werden gerannt kommen, und diesmal wird Edvin das tun, was er denkt. Seine schwere Hand wird wie ein Stein auf meinen Kopf fallen, und es wird weh tun.
Daniel stand auf. Aber das Mädchen schrie nicht. Es gaffte nicht einmal. Es lächelte. Und brach in Gelächter aus. Es erhob sich aus dem Lehm und ging zu ihm hin. Er nahm wahr, daß es nach Urin und Schmutz roch. Am Haaransatz über der Stirn sah er eingetrockneten Lehm.
- Ich habe von dir reden hören, sagte das Mädchen. Aber ich durfte nicht mitkommen, um dich zu sehen. Sie dachten, ich würde ein Spektakel machen.
Sie sprach schnell und kehlig. Trotzdem hatte er keine Mühe, sie zu verstehen. Sie umfaßte seine Hand.
- Du bist ganz schwarz, sagte sie. In der Kirche gibt es einen Teufel an der Wand. Der ist auch schwarz. Kommst du aus der Hölle?
- Ich komme aus der Wüste.
- Was das ist, weiß ich nicht. Aber du heißt Daniel?
- Ich glaube an Gott.
- Das tu ich nicht. Aber das darfst du keinem sagen. Das Mädchen hielt immer noch seine Hand. Er umfaßte behutsam ihr Handgelenk, genau wie er es bei Alma gemacht hatte. Das Herz des Mädchens schlug sehr schnell.
- Wonach hast du gesucht? fragte Daniel.
- Ich höre oft Stimmen im Lehm. Als wenn da unten jemand gefangen wäre. Ich versuche ihnen zu helfen. Aber ich finde nie jemand.
Sie ließ seine Hand los und spuckte ein paar Steine aus.
- Ich kaue gern auf Steinen herum. Manchmal kriege ich sie dazu, daß sie klirren. Kaust du Steine?
Daniel schüttelte den Kopf.
- Ich heiße Sanna, sagte das Mädchen. Ich bin nicht bei Trost.
Dann lief sie davon. Daniel sah ihr nach. Zum ersten Mal, seit Vater ihn verlassen hatte, bekam er Lust zu lachen.
Sie rannte den Feldweg entlang.
Er sah ihr nach, bis sie verschwunden war.
22
Jeden Morgen wiederholte David Hallen dasselbe Ritual. Kurz nach sieben verließ er das verfallene Pfarrhaus und ging quer über die Straße zur Kirche. In der Sakristei fegte er den Mäusedreck weg, der ihn jedesmal erwartete. Oft hatten die Mäuse nachts versucht, an den Gesangbüchern und der Bibel zu knabbern, die auf dem Tisch in dem weiß getünchten Raum lagen.
Dann stellte er sich mit gesenktem Kopf vor den Spiegel, tat einen tiefen Atemzug und sah sein Gesicht an. Jeden Morgen hoffte er, nicht seinem eigenen Gesicht zu begegnen, sondern dem Gott, dem er diente. Doch es waren immer seine eigenen Züge, die ihm mit aufgerissenen Augen entgegensahen: eine Nase, die immer röter wurde, und die stets schlecht rasierten bleichen Wangen.
Auch an diesem Morgen begegnete er im Spiegel seinem eigenen Gesicht. Da er noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben hatte, daß sich ein Wunder ereignen würde, empfand er dieselbe Enttäuschung wie schon so oft zuvor. Er war jetzt seit achtzehn Jahren Pastor in dieser Gemeinde. Als er jung war, hatte er von der Mission geträumt und gehofft, daß diese arme Gemeinde weit draußen in der windigen schonischen Ebene nur die erste Etappe einer langen Reise sein würde. Aber weiter war er nie gekommen. Die Äcker waren sein Meer geworden. Er war nie in die fremden Länder gelangt, wo die Hitze überwältigend war, gefährliche Krankheiten drohten und die schwarzen Menschen nach Erlösung lechzten. Er war hier
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