Die rote Antilope
sein Gesicht auf die Erde. Aber er konnte nur mit den Ohren hören. Den Wind, der pfiff, und die schwarzen Vögel, die kreischten.
- Du mußt es mich lehren, sagte er.
- Ich bin zu dumm, um etwas zu lehren.
- Wer sagt das?
- Das sagen alle.
Daniel überlegte, was eigentlich mit Dummheit gemeint sei. Das Mädchen, das seine Hände hielt, machte ihn vollständig ruhig. Auch wenn er das Meer noch nicht sehen konnte, war in ihren Augen ein Glitzern wie von Meerwasser. Sie würde ihm vielleicht sagen können, in welche Richtung er gehen müßte, um das Wasser zu finden. Ein solcher Mensch konnte nicht dumm sein.
- Eigentlich darf ich gar nicht hier sein, sagte sie plötzlich.
- Warum nicht?
- Ich könnte mich verirren.
Daniel verstand nicht, was das Wort verirren bedeutete.
- Ich weiß nicht, was das ist. Wieder lachte sie aus vollem
Hals.
- Dann bist du dümmer als ich. Man verläuft sich. Findet nicht nach Hause. Man sitzt draußen in der Dunkelheit und schreit um Hilfe, aber niemand hört einen. Dann erfriert man. Wenn sie einen finden, ist man so steif, daß sie einem die Beine brechen müssen, damit man in den Sarg paßt.
Daniel saß schweigend da und dachte über das nach, was sie gesagt hatte. Endlich hatte er ein Wort für das gefunden, was er empfand. Was sie erzählte, traf genau auf ihn zu. Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Auch wenn es nicht dunkel war und er nicht erfroren, hatte er sich doch verirrt.
Er beschloß, sich das Wort zu merken. Wenn er einmal alt wäre und sich in der Wüste von den anderen zurückziehen würde, dann würde er sich an dieses Wort erinnern. An alles, was damals geschehen war, als er sich verirrt hatte. An alles, was ihm dann vielleicht längst entglitten wäre, so daß ihm nichts bliebe als eine rätselhafte Erinnerung.
- Ich mag es, wenn man still ist, sagte Sanna.
Sie hatte seine Hände immer noch nicht losgelassen. Daniel hatte angefangen zu frieren, da die Erde, auf der er saß, kalt war. Aber er wollte sich nicht bewegen. Er wollte nicht, daß Sanna ihn aus ihrem Griff entließ.
- Ich auch, sagte Daniel.
- Es gibt so viele verschiedene Arten von Stille. Wenn man kurz vorm Einschlafen ist. Oder wenn man so schnell läuft, daß man sein eigenes Herz schlagen hört.
Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und schloß die Augen.
- Hast du auch ein Herz? sagte sie erstaunt. Ich dachte, der Teufel hätte keins. Ich dachte, in der Brust von Satan gäbe es nur einen verrußten Schornstein.
Daniel zuckte zusammen. Jetzt sprach sie dieses Wort aus, das Vater immer gebraucht hatte, wenn er ärgerlich oder ungeduldig war. Er mochte es nicht. Das Wort erschreckte ihn.
- Woran denkst du? fragte sie.
- An nichts.
Sie ließ seine Hände los und fing an, ihm ins Gesicht zu schlagen. Als er sich zu wehren versuchte, hörte sie auf.
- Ich mag es nicht, wenn Menschen lügen. Du hast gelogen. Du hast wohl an etwas gedacht.
- Ich habe überlegt, wo das Meer liegt.
- Was willst du mit dem Meer?
- Ich will nach Hause gehen.
- Man kann nicht auf dem Meer gehen, als ob es ein Weg wäre. Dann geht man unter, man ertrinkt. Und wenn man wieder hochkommt, schwimmen einem die Aale aus den Augen.
Daniel merkte, daß Sanna allmählich unruhig wurde. Sie sah sich um, trat in den Lehm und spuckte wiederholt aus. Er dachte, auch sie sei eine Fremde, die von weit her kam, obwohl sie nicht schwarz war. Sie glich keinem der Menschen, denen er bisher zusammen mit Vater begegnet war. Vielleicht war sie ebenfalls irgendwohin unterwegs? Obwohl sie nicht wußte, daß man auf dem Wasser gehen kann?
Plötzlich zog sie ihren Rock hoch. Darunter war sie nackt. Die schwarzen Haare zwischen ihren Beinen wuchsen üppig. Sie streifte den Rock wieder herunter.
- Jetzt bist du dran, sagte sie.
Daniel stand auf und ließ die Hosen herunter. Da er fror, war sein Glied verschrumpelt. Er zog daran.
- Das darf man nicht tun, schrie Sanna. Man darf sich nicht selbst berühren. Sonst fällt er dir ab. Und bei mir wird es wie eine große Wunde.
Hastig zog Daniel die Hosen wieder hoch. Sanna starrte ihn an. Dann drehte sie sich um und rannte davon. Daniel lief ihr nach. Sanna blieb stehen, hob einen Stein auf und warf ihn nach ihm.
- Du darfst nicht mitkommen, rief sie. Sonst kriege ich Prügel.
Der Stein hatte Daniel an der Wange getroffen. Er hatte eine Schramme hinterlassen, die blutete. Sanna hielt jetzt einen anderen, größeren Stein in der Hand.
- Ich werfe ihn, schrie sie.
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