Die rote Antilope
nicht gesagt, du sollst zu Hause auf dem Hof bleiben? Und jetzt finde ich dich hier mit diesem Satansbraten, den Edvin angeschleppt hat.
Er ließ von Sanna ab, die sich im Lehm zusammenkauerte, die Hände vor dem Kopf, als fürchte sie neue Schläge. Wütend starrte der Mann Daniel an.
- Sie ist geistig behindert, sagte der Mann. Sie weiß nicht, was sie sagt oder was sie tut. Von uns ist es reines Erbarmen! Sonst nichts! Da sind keine Eltern, niemand. Aber wir lassen sie bei uns wohnen. Aus Erbarmen! Aber dieses Hurenbalg tut nicht, was man ihr sagt. Dann muß man sie schlagen. Gewöhnlich hilft das. Wenigstens für eine Weile.
Der Mann zerrte Sanna aus dem Lehm hoch und zog sie mit sich den Hügel hinunter. Er hatte sie fest an den Haaren gepackt. Daniel dachte, sie sähe aus wie ein Huhn, das auf dem Weg war, geköpft zu werden.
Dann merkte er, daß er angefangen hatte zu weinen. Es war, als wäre Sannas Schmerz auch in ihm selber.
Er sah sich um. Die Äcker lagen verlassen da.
Nichts als die schwarzen Vögel, die schrien.
23
Der folgende Tag war ein Sonntag. Wie üblich wurde Daniel früh wach. Sonntags durften die Mägde immer abwechselnd ausschlafen. Auch der Knecht konnte eine Stunde länger im Bett bleiben als sonst. Daniel stand auf und zog sich schweigend an. Der Boden unter seinen Füßen war eisig. Der Knecht sah ihn mit einem Auge an. Er winkte ihn zu sich ans Bett. Daniel mochte ihn nicht. Aber er hatte nicht den Mut, etwas anderes zu tun als zu gehorchen.
- Zieh ihr die Decke weg, flüsterte der Knecht. Wenn wir ein bißchen Glück haben, ist ihr Nachthemd hochgerutscht.
Das wiederholte sich jeden Sonntagmorgen, egal welches von den Mädchen im Bett lag und schlief. Daniel hatte nie verstanden, warum der Knecht seine freie Stunde so gern damit verbrachte, die nackten Beine der Mägde anzuschauen. Aber er tat, wie ihm geheißen. Sie bewegte sich, wachte aber nicht auf. Das Nachthemd war bis zur Taille hochgeglitten. Der Knecht würde zufrieden sein. Daniel beeilte sich, aus der Küche zu kommen.
Es regnete. Der Nebel lag kompakt über den braunen Äckern. Die schwarzen Vögel hockten regungslos in dem Gehölz. Alma zog am Brunnen den Wassereimer hoch. Edvin stand daneben und starrte in den Nebel hinaus. Aus weiter Ferne hörte man das Muhen einer Kuh. Daniel hielt seine Schuhe in der Hand. Er lief rasch zum Stall, wo die Magd beim Melken war. Als er in die Wärme eintrat, rieb sich eine der Katzen an seinem Bein. Er legte sich ins Heu und deckte den Körper zu, bis nur noch das Gesicht zu sehen war. Während der Nacht hatte er geträumt, daß Sanna seinen Namen rief. Er hatte nach ihr gesucht. Plötzlich hatte er sich auf dem Schiff befunden, das in einem Sturm heftig rollte. Sanna hatte ganz oben in einem Mast gesessen und ihm zugewinkt. Doch als er hinaufklettern wollte, packte ihn jemand am Nacken und hielt ihn zurück. Er versuchte den Kopf zu drehen, um zu sehen, wer es war. Aber da war niemand. Nichts als der Wind, der seinen Hals in einem unsichtbaren Griff hielt.
Daniel lag im Heu und dachte an den Traum. Es war leicht zu verstehen, was sein nächtlicher Bote hatte sagen wollen. Daniel wollte Sanna nah sein. Aber es ging nicht. Irgend etwas kam immer dazwischen.
Er kauerte sich im Heu zusammen, um die Wärme zu halten. Das Pferd stampfte in seinem Verschlag.
Heute war Sonntag. Das bedeutete, daß alle im Haus bald in die Kirche gehen würden. Der Knecht würde seine Haare naß kämmen, die Mägde würden sich ihre feinsten Tücher um die Schultern legen, und dann würden sie losziehen, gefolgt von Edvin und Alma. Unterwegs würden sie anderen begegnen, die in die gleiche Richtung unterwegs waren, und alle würden Daniel anschauen, und er würde sofort merken, wer neugierig war, wer ihn nicht mochte, und wer neidisch war, weil Edvin Geld dafür bekam, daß Daniel in seinem Haus wohnte.
Hallen würde eine Predigt halten. Er würde viele Worte sagen, die Daniel ermüdeten, weil er sie nicht verstand. Aber Alma würde darauf achten, daß er nicht einschlief, und auch den Knecht und die Mägde unter Aufsicht halten. Sie würden singen, und Daniel würde den Mann ansehen, der ganz vorn an den zusammengenagelten Planken hing.
Schon zweimal war er morgens beim Pastor gewesen. Daniel wartete immer noch darauf, etwas über das Wasser zu erfahren. Hallen hatte ihm jedesmal, wenn er kam, dieselbe Frage gestellt. Woran dachte er? Und Daniel hatte die Antwort verweigert. Er wollte
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